Während die EU auf die Stärke des Rechts setzt, übt Putin das Recht des Stärkeren aus. Gefragt sind Geduld und Festigkeit.

Russland und die EU agieren asymmetrisch. Wer – wie der Kreml – bereit ist, Militär einzusetzen, verschiebt die Machtverhältnisse zunächst zu seinen Gunsten. Diese Grenzüberschreitung erfordert Festigkeit und Geduld. Die militärische Besetzung und Annexion der Krim sowie die Aggression in der Ostukraine haben klargemacht, dass der Kreml bereit ist, seine politischen Ziele mit militärischen Mitteln zu verfolgen. Internationales Recht und völkerrechtliche Verpflichtungen wie das Budapester Memorandum werden ohne Skrupel zur Seite geschoben. Dagegen möchte die EU militärische Gewalt aus der europäischen Politik verbannen. Für die deutsche Aussenpolitik bilden Völkerrecht, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris das Fundament der europäischen Friedensordnung.

Während die EU auf die Stärke des Rechts setzt, übt Putin das Recht des Stärkeren aus. Wie Russland entgegenzutreten ist, ohne das Risiko einer militärischen Eskalation einzugehen, stellt hohe Anforderungen an die Diplomatie.

Erstens: Klarheit und Festigkeit gegen Propaganda. Desinformation ist ein wichtiges Instrument der russischen Führung. Klarheit im Kopf und in Worten ist daher zwingend und ist auch eine Form von Stärke. Wer die offene Lüge mit freundlicher Nächstenliebe bemäntelt, gewinnt nicht etwa Sympathie im Kreml, sondern verliert an Ansehen. Die russische Propaganda bespielt virtuos die Opferrolle. Sie schürt Legenden wie die vermeintliche Einkreisung Russlands durch die Nato. Damit beeinflusst sie auch das Denken vieler Bürgerinnen und Bürger im Westen. Tatsache ist: Russland steht mit modernen Kampfeinheiten an der Grenze zu unseren östlichen Nachbarn. Wer dieser Propaganda nicht entgegentritt, braucht sich über bröckelnde Unterstützung in der eigenen Bevölkerung nicht zu wundern.

Zweitens: Einigkeit. Der Kreml setzt auf den Zerfall des Westens. Der Brexit war für Putin ein Erfolg. Der Aufbau einer rechten Internationale mit Ukip, Front national, FPÖ, AfD und den Orbans des Westens zeigt, wohin die Reise gehen soll. Die Wahl von Macron in Frankreich war für diese Strategie des «divide et impera» ein Rückschlag. Die Investition in Trumps Sieg zahlt sich angesichts von Checks und Balances in den USA bis jetzt nicht aus – Trumps Spielräume schrumpfen nach Enthüllungen der wachsamen Presse. Der Kreml hat mit der Festigkeit des Westens in der Sanktionsfrage nicht gerechnet. Wer da wackelt, schwächt die eigene Position. Siemens hat auf der Krim nichts zu suchen. Ein deutscher Altkanzler macht sich nicht zum Lobbyisten des Kremls. Versorgungssicherheit mit Gas und Öl ist kein deutsch-russisches Projekt, es gehört in die Hände der EU. Wer die Tür zum bilateralen Sonderweg aufstösst, wird zum politischen Leichtgewicht.

Drittens: Kompromisse erfordern Realismus. Verschwiemelte Kompromisse bevorteilen den, der falsch zu spielen bereit ist. Wer zulässt, dass die Russische Föderation im Minsker Prozess als Mediator auftritt, obwohl der Kreml zweifelsfrei Kriegspartei ist, der endet in der Rolle als Bittsteller. Nicht Russland und die Ukraine sind gleichermassen «Konfliktparteien» vor Ort. Sondern Russland hat mit der Krim ukrainisches Gebiet annektiert und führt im Osten einen Angriffskrieg. Im Unterschied dazu verteidigt die ukrainische Armee ihr eigenes Staatsgebiet.

Viertens: Modernisierungsangebote aufrechterhalten. Der russischen Ökonomie fehlt die Perspektive, die Bevölkerung spürt den Kaufkraftverlust. Die Infrastruktur ist marode. Fehlende Rechtsstaatlichkeit behindert vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Ein wachsender Teil der gut ausgebildeten Jugend will auswandern. Das Land lebt von Gas und Öl allein. Noch reicht die Repression, um offene Opposition klein zu halten. Aber die Herren im Kreml wissen, dass ein marodes System auch durch Repression nicht dauerhaft stabilisiert werden kann. Modernisierung ist ohne Rechtsstaat und Demokratie nicht zu haben. Der Westen muss bekräftigen: Eine Modernisierung des Landes auf der Grundlage demokratischer Prinzipien werden wir nach Kräften unterstützen. Denn für uns gehört Russland zu Europa.

Fünftens: Visafreiheit. Reisen bildet. Der Propagandamaschine des Kreml, die die Köpfe ihrer Bürger vergiftet, sollten wir die Freiheit entgegenstellen. Kein Visa-Regime mehr, das ein Gefühl der Demütigung hervorruft. Je mehr russische Bürger den Westen mit seiner Meinungs- und Pressefreiheit, einem Leben ohne korrupte Abzocke und selbstbewussten Bürgern erleben, desto schneller wird das autoritäre Regime im Kreml bröckeln. Wir sollten zeigen, dass der vermeintlich dekadente Westen ein besseres Leben möglich macht. So könnte der demokratische Wandel in Russland befördert werden. Annäherung durch freies Reisen – friedlicher kann Stärke nicht sein.

Marieluise Beck ist Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Osteuropapolitik von Bündnis 90 / Die Grünen. Der Beitrag entstand im Rahmen des NZZ-Podiums Berlin zum Thema «Russland».


Von Marieluise Beck – Wie soll Europa mit Russland umgehen? (29.8.2017, NZZ)