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StopFake hat in Berlin den Russland-Beauftragten der Bundesregierung Gernot Erler getroffen und mit ihm über die Bedingungen zur Durchführung von Lokalwahlen im Donbas, die Umsetzung von Minsk II, die Lösung von „frozen conflicts“ in der post-sowjetischen Region und über die diplomatische Beziehungen mit Russland gesprochen. Hier können Sie den ersten Teil des Exklusiv-Interviews lesen. Der zweite Teil folgt in den nächsten Tagen.

Von – Galyna Schimansky-Geier [clear]

StopFake besuchte den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für den deutschen OSZE-Vorsitz Gernot Erler in dessen Berliner Hauptstadtbüro. Direkt aus den Bürofenstern am Boulevard „Unter den Linden“ erblickt man die dunkelgrauen Wände der gegenüberliegenden Russischen Botschaft. Für Erler ist dieser Ausblick durchaus symbolisch, beschäftigt er sich doch seit mehr als 25 Jahren hauptsächlich mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft. Er wurde dabei in Vergangenheit oft als „Russland oder Putinversteher“ bezeichnet, obwohl er selbst solche simplifizierten Bezeichnungen über sich zurückweist. In diesem Interview sollte er allerdings auch darüber sprechen, warum das diplomatische Berlin, Russland lange Zeit nicht als Aggressor in der Ostukraine klar benennen wollte. Erler erklärt weiter, unter welchen Bedingungen Kommunalwahlen im Donbas aus seiner Sicht durchgeführt werden könnten und ob der Westen etwas an seinem „soft-power“- Ansatz ändern sollte, um mit Moskau effektiver kommunizieren und umgehen zu können.


Galyna Schimansky-Geier: In den letzten Jahren haben Sie sich in Ihrer Tätigkeit als Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, vorrangig mit der Ukraine und Russland beschäftigt. Wenn man Sie gefragt hätte, was hätten Sie als Ihre größten Erfolge und größten Enttäuschungen bezeichnet, wenn wir einerseits über den Krieg in der Ukraine und andererseits über die Beziehungen zu Russland sprechen?

Gernot Erler: Leider muss ich sagen, dass die negativen Erfahrungen doch überwiegen. Wir haben zwar seit ziemlich genau zwei Jahren, seit dem 12.02.2015, das Minsker Abkommen, das die Unterschriften von der Ukraine, von Russland und auch von Deutschland und Frankreich trägt, und das in 13 Punkten einen Friedensfahrplan darstellt. Aber nach zwei Jahren ist noch nicht mal ein einziger Punkt hundertprozentig umgesetzt von diesem Fahrplan. Im Gegenteil, wir haben Ende Januar – Anfang Februar dieses Jahres eine Verstärkung von Kampfhandlungen erlebt, mit auch ziemlich vielen Opfern. Und insofern haben wir eine andauernde weiterhin gefährliche Situation und noch keinen Durchbruch erzielt. Das Positive, was man sagen kann, ist, dass es einen ständigen diplomatischen politischen Prozess gibt, dass weiterhin der Ausschluss einer militärischen Lösung von allen Seiten anerkannt wird. Und dass es keine Ausweitung der Kämpfe gegeben hat, weder regional noch von der Frage der Waffen her, die eingesetzt werden. Und wenn man das abwägt, dann hat man doch mehr Grund zur Sorge als zur Zufriedenheit.

G. S-G.: Sie haben die Eskalation in der ostukrainischen Stadt Awdijiwka Ende Januar angemerkt. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Eskalation, zu genau diesem Zeitpunkt? Es gibt international dabei auch durchaus die Meinung, dass Putin durch diese Eskalation den neuen US-Präsidenten Trump in gewisser Weise auf seine Reaktion hin „testen“ wollte. Wie stehen Sie zu diesen Meinungen?

G. E.: Uns liegen die Berichte vor der Beobachter der SMM – der Special Monitoring Mission. Danach hat es hier zunächst einmal eine ukrainische Bewegung in der sogenannten „Grauzone“ gegeben und danach Drohungen von der Separatistenseite und dann einige Zeit an Vorbereitung und dann eine Verstärkung der militärischen Tätigkeiten auf der Separatistenseite. Also beide Seiten haben sich an dieser Eskalation massiv beteiligt, auch mit der massiven Verlagerung von schweren Waffen nach vorne an die Kontaktlinie, was nach Punkt 2 des Minsker Abkommens genau umgekehrt verlaufen müsste. Was die Motive angeht, ist man auf Spekulationen angewiesen, weil wir keine Belege haben. Aber es kann natürlich sein, dass die ukrainische Seite angesichts der amerikanischen Politik und dieser Tendenz von Präsident Trump, doch Putin entgegen zu kommen und auch vielleicht die Sanktionen in Frage stellen zu wollen, dass da ein Motiv bestand, zu zeigen, wie gefährlich die Lage immer noch vor Ort ist, und dass man weiterhin alle Instrumente braucht, einschließlich der Sanktionen, um hier weiter zu kommen. Das ist durchaus möglich, bleibt aber im spekulativen Bereich.

G. S-G.: Gehen wir thematisch nach Kiew. Es geht dabei um eine Situation, die sich Anfang Februar in Kiew zugetragen hat. Der deutsche Botschafter in der Ukraine, Herr Ernst Reichel hatte dabei im politischen Kiew für eine Welle der Empörung gesorgt. Der Botschafter hat in einem Interview mit der Website RBK gesagt, dass Lokalwahlen im Donbas auch dann stattfinden könnten, wenn ,nicht an jedem Haus im Donbas eine ukrainische Flagge hängt‘ und ,eine Präsenz von russischen Truppen im Donbas kein Problem darstellt‘. Am darauffolgenden Tag hat das deutsche Außenministerium bestätigt, dass Herr Reichel nichts Falsches gesagt hat. Wie ist Ihre Position dazu?

G. E.: Auf jeden Fall ist es natürlich bedauerlich, dass es hier zu einer solchen öffentlichen Debatte gekommen ist, in dessen Mittelpunkt der deutsche Botschafter in Kiew steht. Sie haben selber schon gesagt, und das stimmt, dass von der Sache her es im Minsker Abkommen keineswegs steht, dass ein Abzug aller militärischen Kräfte stattfinden muss, bevor es zu Kommunalwahlen kommt. Das steht da nicht drin. Aber die Frage ist doch, was die aktuelle politische Situation ist. Und da haben wir ja diese Diskussion über die „roadmap“, also über eine Sequenzierung, die durchaus auch abweichen kann von dem, was in dem Minsker Abkommen steht. Darüber verhandeln jetzt aktuell die Außenminister oder wollen es noch in dieser Woche tun. Und insofern ist tatsächlich eine offene Situation entstanden bei der Frage, was sind die Voraussetzungen dafür, dass lokale Wahlen im Donbas durchgeführt werden können. Insofern bin ich sehr froh, dass jetzt die Chance besteht, diese Punkte jetzt auszuräumen und wieder klar zu machen, dass letztlich natürlich das Minsker Abkommen gilt. Wir verhandeln allein über eine neue Formulierung der „roadmap“ und niemand wollte in diese Diskussion jetzt in irgendeiner Weise eingreifen.

G. S-G.: Ihrer Meinung nach ist es möglich in der heutigen Situation freie Wahlen im Donbas durchzuführen? Ich frage explizit nach, weil Sie selbst in mehreren Interviews auf die schlechte Menschenrechtssituation in der Ostukraine hingewiesen haben. Viele ukrainische Gefangene, seien es Zivilisten oder Soldaten verbleiben immer noch in Gefangenschaft im Donbas. Nach Berichten werden diese dort regelmäßig moralisch und physisch gefoltert. Wie können wir in einem solchen Zustand überhaupt über die Abhaltung von freien Wahlen reden?

G. E.: Es gibt ja schon eine längere Diskussion darüber, auf welcher Weise ein solcher Wahlvorgang abgesichert werden kann und was man dazu braucht. Und ob dazu die Beobachter der SMM ausreichen oder ob man eine erweiterte Mission der OSZE dazu bräuchte, oder ob man dazu – was die ukrainische Seite vorgeschlagen hat – eine spezielle Polizeimission braucht. Also das sind alles die bekannten Diskussionen, die natürlich belegen, dass jeder weiß, dass es einer zusätzlichen Anstrengung bedarf, um das „Environment“, die Rahmenbedingungen für solche Wahlen so zu gestalten, dass jeder tatsächlich frei und ohne Druck und Pression wählen kann. Darüber gibt es keinen Dissens. Bisher gibt es noch keine Einigung darüber, wie man das schafft, eine solche Situation herzustellen. Aber dass da Handlungsbedarf besteht, das ist unbestritten.

G. S-G.: Wir haben registriert, dass Deutschland sehr lange gezögert hat, Russland eindeutig als Aggressor im Krieg in der Ostukraine zu benennen und dies auch öffentlich deutlich zu sagen. Können Sie uns erklären warum dies so war?

G. E.: Ich sehe das eigentlich anders. Es gibt eher einen Konflikt zwischen der westlichen Seite und Russland darüber. Russland gefällt sich darin, immer wieder zu sagen: Man sei ja gar keine Konfliktpartei und man sei eher ein Moderator eines inner-ukrainischen Konfliktes, nach dem Motto: „Das ist ein Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine. Wir haben damit eigentlich nichts zu tun und sind deswegen auch nicht Konfliktpartei.“ Aber dass der Westen das anders sieht und damit letztendlich auch durchgedrungen ist, das kann man daran sehen, was in Minsk passiert bei der trilateralen Kontaktgruppe. Da sitzen nämlich drei Parteien an einem Tisch: die russische Seite, die ukrainische Seite und die Separatisten unter dem Dach der OSZE, mit der Moderation der OSZE und mit den vier Arbeitsgruppen zu den Themen Sicherheit, Wirtschaft, Humanitäres und Politik. Es wird dort jede Woche verhandelt, und da sitzt Russland als Konfliktpartei mit am Tisch. Also real, was die tatsächliche Politik und den diplomatischen Prozess angeht, hat Russland in Wirklichkeit akzeptiert, dass es Konfliktpartei ist, und das kann man auch als Erfolg des Westens insgesamt bezeichnen.

 

Gernot Erler - Copyright gernot-erler.de
Gernot Erler – Copyright: gernot-erler.de

 

G. S-G.: Begeben wir uns weg vom Krieg in der Ukraine. Wenn wir die gesamte Region betrachten, ist festzustellen, dass es bereits früher Konflikte gab, die nach dem gleichen Muster „geführt“ bzw. „begonnen“ wurden. Ich meine hierbei die Konflikte Transnistrien, in Georgien und Nagornyj Karabach. In allen Fällen war Russland Teil des Konfliktgeschehen, wenn nicht sogar auch der Aggressor. Bedeutet dies nicht für Sie in der Rückschau, dass der Westen keine Lehren aus diesen Konflikten gezogen hat? Weil wir sehen, dass sich solche von außen provozierten Konflikte immer wieder in der gleichen Region wiederholen? Sehen Sie dies nicht auch als eine unmittelbare Niederlage der gesamten westlichen Diplomatie?

G. E.: Sie sprechen von den sogenannten „frozen conflicts“, und die haben ja alle drei – Transnistrien, Georgien und Nagornyj Karabach – eine identische Entstehungsgeschichte. In den frühen 1990-er Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion hat es separatistische Bestrebung in diesen Regionen gegeben, die zunächst einmal als blutige Kriege bis 1994 ausgetragen worden sind, und dann sind eben diese eingefrorenen Konflikte daraus entstanden. Dass diese so lange Bestand haben, bis heute, dass liegt nicht an irgendwelchen Versäumnissen des Westens, sondern es liegt daran, dass es ganz offensichtlich für die russische Seite komfortabel ist, hier den politischen Einfluss in diesen Staaten zu bewahren, auch dadurch, dass hier Russland die separatistischen Bestrebungen unterstützt. Also ob das in Abchasien ist, ob das in Südossetien ist, ob das in Transnistrien ist – das ist überall dasselbe. Und das gibt eben der russischen Politik eine Möglichkeit, einen Hebel zu nutzen. Der Westen bemüht sich seit vielen Jahren – wir haben das jetzt gerade auch wieder in dem deutschen OSZE-Vorsitz sehr intensiv versucht, die Situation vor Ort zu entspannen und mit kleinen Schritten zu einer Überwindung der gefährlichen Situation zu kommen. Oder wenn es dann tatsächlich zu Ausbrüchen kommt, wie das zum Beispiel im April des letzten Jahres in Nagornyj Karabach der Fall war, dann zu helfen, dass ein Waffenstillstand vereinbart wird, dass man wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Und wir haben Verhandlungsformate in allen drei Konflikten. Und da bemüht sich die westliche Seite eben vor Ort, zu helfen und zu einer politischen Lösung des Konfliktes zu kommen. Auch da kann man sagen, dass sich der Westen dort nichts vorwerfen lassen kann. Was jetzt die Ukraine angeht, kann ich nicht ausschließen, dass die russische Politik nach dem genannten Muster etwas anstrebt in der Ostukraine. Weil, sage ich mal, ein eingefrorener Konflikt dort eben auch Russland einen Hebel geben würde, um auf die ukrainische Politik einzuwirken. Auf jeden Fall würde ein „frozen conflict“ ausreichen, um zu verhindern, dass die Ukraine irgendeinen Weg in die NATO oder die EU gehen kann. Denn da würde der russische Hebel jederzeit stark genug sein, um dies zu verhindern oder einen solchen Beitritt für die betroffenen Kollektivsysteme wenig attraktiv zu machen. Aber das ist natürlich keine offiziell erklärte russische Politik, sondern man kann nur aus dem russischen Verhalten in den anderen Konflikten spekulieren darüber, ob dies vielleicht das Ziel der russischen Politik in der Ostukraine ist. Es gab auch andere Ideen, zum Beispiel Neurussland/Noworossija – also die Idee, eine Art Pufferstaat zu machen, nur dass dieser irgendwann auch von der russischen Führung und vom russischen Präsidenten fallen gelassen wurde. Davon ist keine Rede mehr jetzt, obwohl es natürlich immer noch in Russland Gruppierungen gibt, die diesem Traum nachhängen. Aber offiziell bekennt sich Russland zur Souveränität und Integrität der Ukraine und sagt, dass dies ein inner-ukrainischer Konflikt ist, und erklärt: „Wir haben damit nichts zu tun.“ Bloß schließt das ja nicht aus, dass in Wirklichkeit vielleicht ein Interesse besteht, einen Konflikt aufrecht zu erhalten, der einen politischen Hebel in die russische Hand gibt.

G. S-G.: Welche Lehren kann man als westlicher Diplomat aus den genannten Konflikten ziehen? Lehren, um in Zukunft eine Wiederholung von solchen Konflikten zu vermeiden? Russland wird auch in Zukunft in der Lage sein, Länder militärisch anzugreifen. Gibt es Ihres Wissens nach Pläne zukünftig dem russischen Vorgehen etwas entgegen zu setzen? Lehren unter westlichen Diplomaten aus der Krim-Annexion? 

G. E.: Die erste Schlussfolgerung ist, diesen Konflikt als solchen anzuerkennen und das russische Vorgehen nicht zu akzeptieren. Und das tut ja der Westen auch. Das heißt, es gibt kein einziges Gespräch mit der russischen Seite, wo nicht von unserer Seite aus betont wird, dass wir die Annexion der Krim nicht anerkennen können. Das kann man auch daran sehen, dass der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt hat, was die Krim angeht. Einschließlich mit der Maßnahme, dass die auf der Krim gewählten Duma-Abgeordneten von uns nicht anerkannt werden als rechtmäßige Vertreter der Krim. Und das heißt, das ist das Wichtigste, dass man im Grunde genommen der anderen Seite deutlich macht, dass dies kein akzeptabler Weg gewesen ist, der dort unternommen wurde. Und dass man erwartet, dass man irgendwann in einen politischen Prozess eintritt, um dies zu klären und dafür eine politische Lösung zu finden.

Allerdings sind wir im Augenblick, was die Krim angeht, noch nicht so weit, weil wir die Auseinandersetzung in der Ostukraine haben. Weil doch dieser Konflikt in jeder Woche Opfer fordert, und das bis heute: schon über 10.000 Opfer insgesamt! Und das zwingt uns dazu, die oberste Priorität auf die Beendigung der Kämpfe in der Ostukraine zu setzen. Und dann das Thema Krim da rein zu mischen, dass wäre sehr unklug, weil das die Sache wahnsinnig verkomplizieren würde. Aber das heißt nicht, dass es eine stillschweigende Anerkennung gibt. Interessant ist ja, dass jetzt gerade auch der neue amerikanische Präsident gefordert hat, Russland solle die Krim zurückgeben. Das kommt sicher für einige Russen überraschend, weil Trump andere Andeutungen im Wahlkampf gemacht hat, aber das zeigt, dass es keine Bereitschaft im Westen gibt, die Annexion der Krim anzuerkennen. Und dass wir auch dort davon ausgehen, dass es nur eine Verhandlungslösung geben kann. Das hat jetzt keinen Sinn, darüber irgendwelche Fantasien zu entwickeln, aber es muss in jedem Fall ein politischer Prozess sein, der dann zu einen späteren Zeitpunkt das Thema Krim wieder aufwirft.

G. S-G.: Sie hatten bereits die OSZE erwähnt. In der Ukraine wurde in der Vergangenheit oft darüber geklagt, dass die Arbeit der OSZE SMM-Mission selbst wenig effektiv ist. Die ukrainische Seite gibt an, dass die OSZE beispielsweise nicht genau Auskunft darüber geben kann, wer wirklich wann genau mit dem Beschuss begonnen hat, sowie dass die SMM nicht klar feststellt, dass Separatisten mit russischen Panzer durch die Ostukraine fahren, dort wo diese eigentlich nicht fahren dürften. Allgemein gibt es eine sehr große Unzufriedenheit auf der ukrainischen Seite über die Rolle und die Erfolge der OSZE. Wie können Sie dieses schlechte Bild der OSZE-Beobachter kommentieren?

G. E.: Ich bin nicht glücklich über solche kritischen Äußerungen gegenüber der OSZE, weil wir völlig andere Berichte von den Beobachtern haben. Die Beobachter stellen fest, dass sie von beiden Seiten sehr häufig in Ihrer Arbeit behindert werden. Was den Zugang zu den Lagerstätten von den schweren Waffen angeht, gab es hier bisher ein deutliches Ungleichgewicht. Vor allem die Separatisten haben dort den Zugang für die OSZE-Beobachter erschwert. Aber auch die ukrainische Seite macht so etwas. Und in letzter Zeit hat sich das Verhältnis sogar etwas in die andere Richtung entwickelt, was vielleicht etwas mit dem Vorrücken in die „graue Zone“ zusammenhängt. Jedenfalls bekommen wir sehr genaue Berichte von der SMM, wobei, da haben Sie Recht, natürlich nicht bei jedem einzelnen Schuss gesagt werden kann, von welcher Seite er kommt. Aber da wird in den Berichten schon auch deutlich gemacht, aus welcher Richtung in welche Richtung geschossen worden ist. Und auch wo man nicht Zugang bekommen hat, wo man in der Arbeit behindert worden ist. Das Problem ist ja, es gibt nichts anderes als die OSZE. Wenn wir nicht die OSZE und die mutigen Beobachter hätten, die sich ja auch erheblichen Gefahren aussetzen, mit fast 800 Mann in der Ostukraine, wenn wir die nicht hätten, wüssten wir fast überhaupt nichts Belastbares, was da vor sich geht. Was passiert da eigentlich in Awdijiwka, wer verletzt dort die Regeln? Wer rückt nach vorne, wer rückt nach hinten? Das wüssten wir sonst überhaupt nicht. Aber wir bekommen täglich die Berichte und wir nehmen eindeutig die OSZE und die SMM auch in Schutz, weil wir ohne die Arbeit der OSZE praktisch blind wären. Von den Abläufen her blind wären, was diesen Konflikt in der Ostukraine angeht.

G. S-G.: Ihre Äußerungen sind interessant, denn in der Ukraine hört man gar keine Nachrichten darüber, dass die ukrainische Seite selbst auch Regeln verletzt und OSZE-Beobachtern den Zugang zu bestimmten Orten verweigert.

G. E.: Ja, ich hatte ja gesagt, dass das Verhältnis bei den Zugangsbeschränkungen lange Zeit 80 zu 20 war. Aber immerhin ein Fünftel der Behinderungen gingen auch auf das Konto der ukrainischen Seite. Wir haben interessanterweise in den letzten Wochen auch eine Verschiebung dieses Verhältnisses gehabt. Leider muss man feststellen, dass hier die Regeln des Minsker Abkommens von beiden Seiten nicht eingehalten werden. Wir haben ein immer näher kommendes Aneinanderrücken von beiden Seiten. Auch wenn die „line of contact“ nicht überschritten wird, aber so rücken die verschiedenen bewaffneten Gruppierungen wieder näher aneinander, was natürlich wieder größere Gefahren und wieder größere Verluste bedeutet, in dem Augenblick, in dem geschossen wird. Und wir haben natürlich immer dieses „blame-game“, wobei jede Seite die andere Seite beschuldigt, und immer wenn man selber irgendwas macht, sagt; „Ja, aber wir reagieren ja nur.“ Übrigens: diese Reaktion ist auch verboten nach dem Minsker Abkommen. Da steht nicht drin, dass man reagieren darf, wenn der andere die Regeln verletzt. Darin wird natürlich gefordert, dass beide Seiten sich an das Abkommen halten. Aber diese gegenseitigen Beschuldigungen führen natürlich in eine Sackgasse. Man rechtfertigt, dass man die Regeln verletzt, weil der andere sie verletzt hat. Und wie kommt man da raus? Bei einem einzelnen Schusswechsel ist es sehr schwer zu sagen, wer jetzt angefangen hat. Auf jeden Fall verletzen beide bei jedem Schusswechsel die Regeln des Minsker Abkommens.


Teil 2 des Interviews mit Gernot Erler folgt in den nächsten Tagen.