Originalartikel von Sylvia Sasse bei Geschichten der Gegenwart.ch (11.1.2017)

Dass rechtspopulistische Parteien in Europa ihre rhetorischen Strategien beim russischen Propagandasender RT abkupfern, ist nichts Neues. Was sie damit bezwecken, aber schon.

Als der Schweizer SVP-Politiker Claudio Zanetti vor ein paar Tagen über Twitter bei #RT und #Sputnik nachfragte, ob ein Artikel über Medienzensur in Russland, publiziert bei infosperber.ch, der Wahrheit entspräche, kam in diesem einen Tweet das ganze Ausmass jener Komödie ans Licht, die die Meister der Desinformation gerade aufführen: Ein rechtsnationaler Politiker erkundigt sich bei Journalisten, die von einem autoritären Staat bezahlt werden, nach der Wahrheit über die Pressefreiheit. Was wollte er von RT und Sputnik wissen? Ob es etwa, wie bei infosperber dargelegt, stimmt, dass in Russland seit 1990 360 Journalisten ums Leben gekommen sind, dass TV-Sender geschlossen wurden, dass sich Journalisten in Russland in einer Gewerkschaft organisieren und nicht nur kritisch gegenüber der eigenen Zensur und Propaganda sind, sondern auch eine mögliche Welle von Gegenpropaganda aus Westeuropa fürchten?

Da erkundigt sich also einer, der das eigene öffentlich-rechtliche Fernsehen wahlweise als „zwangsgebührenfinanziertes Staatsfernsehen“, als „Gesellenstück politischer Propaganda“ oder als „sozialistisches Gutmenschenmedium“ bezeichnet, beim fremden Staatsfernsehen nach der Wahrheit. Und gibt dabei kund, dass man, wenn man heutzutage in der Schweiz oder gar in ganz Europa die Wahrheit über Russland wissen wolle, der eigenen Presse nicht trauen kann, sondern eher dem Staatssender eines autoritären Regimes.

Das gute Eigene und das böse Fremde und das böse Eigene und das gute Fremde

Nehmen wir Zanettis Frage also ernst und schauen nach, ob und was RT über Journalismus in Russland berichtet. Zunächst: Es gibt keine Berichte über die Einschränkung der Pressefreiheit, über Zensur, verfolgte Journalisten in Russland auf RT. Unter dem Stichwort Pressefreiheit erscheinen vor allem Artikel zur „westlichen Lügenpresse“, zur „Pressezensur“ in Europa und der Ukraine, zur ‚ideologischen Verblendung’ der NGO „Reporter ohne Grenzen“, zur ‚medialen Alternative’ von Breitbart. Die Lektüre war aber in anderer Hinsicht tatsächlich erhellend. Denn bei RT (früher Russia Today), ein 2005 gegründeter russischer staatlicher Auslandsfernsehsender, der seit 2014 ein mehrsprachiges Webportal und ein Nachrichten-Multi-Channel-Netzwerk bei Youtube auf Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch unterhält, kann man den neuesten Stand medialer Propaganda prima erforschen.

Poster für RT’s „Second Opinion“ Werbekampagne in London

Wie RT tickt, zeigt sich am unverstelltesten in einem Gespräch zwischen der RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan und dem Politologen Dmitrij Kulikov. Beide sind sich einig, dass der Westen „Verrat an seinen eigenen Werten“ übe und die „Faschisierung in den so genannten ‚liberalen Demokratien’ voranschreite“. Dies zeige sich unter anderem daran, dass das Europaparlament eine „Resolution“ über den „Kampf gegen russische Propaganda“ initiiert habe, die in „Form und Inhalt Erinnerungen an ein Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ wecke. Simonjan behauptet weiter, die westliche Meinungsfreiheit sei bedroht bzw. habe der Westen die Meinungsfreiheit längst aufgegeben. Denn, sobald, so Simonjan, „eine reale Erscheinung von Meinungsfreiheit zum Vorschein kommt“, gemeint sind Medien wir RT und Sputnik, „die sich in tatsächlichem Andersdenken und abweichender Meinung äußert, beginnen sie [gemeint ist die EU], solche Resolutionen zu beschließen und versuchen, uns abzuwürgen.“

Das Medium ist die Botschaft

RT bezeichnet seine Desinformationen stets als „zweite Meinung“ oder „andere Perspektive“, als „Gegenöffentlichkeit“ zur ‚zensierten’ Presse in Westeuropa. Wer RT bekämpfe, bekämpfe auch die Meinungsfreiheit an sich. Diese Strategie wird von RT jedoch nur für den Westen angewendet, in der Berichterstattung über Russland bleibt die Meinungsfreiheit ein schwarzes Loch. Berichte über Aktivisten, die für Meinungsfreiheit in Russland kämpfen, wie z.B. Ildar Dadin, der wegen seiner Einzelkundgebungen mit drei Jahren Lagerhaft bestraft worden ist, kommen auf RT nicht vor.

Die westeuropäische Presse hingegen, so RT, tanzt nach der Nase einer „Zentralgewalt“, „die nach politischer Opportunität festlegt, was Wahrheit ist“. „Eine Zukunft“, so sagt die Chefredakteurin von RT, „vor der George Orwell mit seinem Werk 1984 eindringlich gewarnt hatte.“

Bei RT ist das Medium in einer Abwandlung von McLuhans Slogan selbst die Message. Nicht die einzelnen Meldungen, die mal weniger und mal mehr stimmen, enthalten die Botschaft, die Botschaft ist vielmehr die Existenz von RT selbst: RT wurde als ein Gegenmedium zur westlichen Presse etabliert, um diese im selben Zuge als „Lügenpresse“ bezeichnen zu können.

Poster für RT’s „Second Opinion“ Werbekampagne in London

Ganz in diesem Sinne sympathisiert RT natürlich auch mit Breitbart. Breitbart wird als Möglichkeit, den „Trump-kritischen deutschen Medienmarkt von außen zu ‚befreien’“ und eine weitere „Gegenöffentlichkeit zu schaffen“, dargestellt. Dabei scheut sich der Journalist auf RT nicht, die Befreiung der deutschen Presse von ihrer angeblichen Ideologie mit der Befreiung von 1945 zu vergleichen: „Zu Tausenden machten Leser in den Kommentarspalten ihrer Wut über die nach ihrer Auffassung äußerst tendenziöse Berichterstattung Luft. Manche von ihnen behaupteten gar, die deutsche Medienlandschaft sei so gleichförmig, dass eine Befreiung von dem ihr zugrundeliegenden Konsens wie schon 1945 nur von außen kommen könnte.“

Auch die Plakatkampagnen von RT  insistieren darauf, dass RT die „zweite Meinung“ sei. Die Plakataktionen sind aber auch ein typisches Beispiel für eine andere Strategie: Sie kritisieren – und zum Teil durchaus richtig – z.B. die verlogenen Begründungen des Irakkriegs durch die USA, um daraus dann die Schlussfolgerung zu ziehen, dass RT und die russische Politik die einzige Alternative seien. Das ist vermutlich genau jene Praxis, auf die vor allem viele Linke hereinfallen. Mit RT soll man gemeinsam mit der russischen Regierung Clinton, Merkel, die EU, den Neoliberalismus etc. hassen können und dabei vergessen, dass die Putin’sche Politik nicht links ist, sondern nationalistisch, xenophob, homophob, ultrareligiös, korrupt und autoritär.

Verkehrungen ins Gegenteil

Auch die beliebte rechtspopulistische rhetorische Strategie, die Verkehrung ins Gegenteil, wird bei RT geradezu exzessiv verwendet. Man kann mindestens drei verschiedene Funktionen der Verkehrung ins Gegenteil ausmachen. Erstens will RT erreichen, Russland als letzten Vertreter der westlichen Werte darzustellen, als ein liberales Land, und Westeuropa, insbesondere die EU, als Diktatur sowjetischen Typs.

Zweitens ist die Verkehrung auf die Medien selbst gerichtet, wobei Propaganda als Gegenöffentlichkeit dargestellt wird und die unabhängige Presse wahlweise als „Lügenpresse“, „so genannte freie Presse“ oder als zensierte Presse. Das ermöglicht RT, die Kritik am Sender als organisierte Bedrohung der letzten „Gegenöffentlichkeit“ zu inszenieren. Bei all den Verkehrungen ist es kein Zufall, dass RT sich ein Vokabular angeeignet hat, das aus den nonkonformistischen Bewegungen der Sowjetzeit stammt: „Gegenöffentlichkeit“, „Andersdenkende“, „neue Perspektive“ etc. sind die Schlagwörter, mit denen sie ihren staatlichen Widerstandskampf gegen die eigene Opposition und gegen den Westen befeuern. Dieses Vokabular haben die rechtspopulistischen Parteien inzwischen auch für sich reklamiert (AfD als Andersdenkende, SVP als Opposition etc.).

Drittens kommt es zu einer Verkehrung von „real“ und „medial“, denn diejenigen, die die liberalen Werte in der Praxis zerstören, sind diejenigen, die sie in ihrer Propaganda feiern. Diese Spaltung von medialer Repräsentation und Wirklichkeit, die RT betreibt, wurde in der Sowjetunion, wo die ‚realistische’ Darstellung des Landes in der Presse stets einem utopischen Roman glich, lange Zeit erprobt. Sie ist ein klassisches Beispiel für Propaganda.

Verschiebungen

Das bereits erwähnte Gespräch zwischen dem Politologen und der Journalistin von RT zeigt noch eine weitere typische Strategie: Verschiebung. Die russischen Staatsmedien bezeichnen Kritik an ihrem politischen System seit Jahren als Russophobie. 2009 wurde zum Beispiel der russische Schriftsteller Viktor Erofeev wegen „Russophobie“ von Mitgliedern der rechtsradikalen, 2002 gegründeten „Bewegung gegen illegale Immigration“ (DPNI), die sich als Spürhunde der Russophobie verstehen, angeklagt (die Anklage wurde dann wieder fallenlassen).

Poster für RT’s „Second Opinion“ Werbekampagne in London

Kritik am politischen System als Russophobie zu bezeichnen, ermöglicht eine subtile Verschiebung: Kritik wird so als Hass auf eine Nation, eine Kultur oder eine Ethnie gelesen. RT beherrscht diese Ethnisierung des Politischen bis ins Extreme: Für ihre ausländischen Leser machen sie deutlich, dass die Kritik, die bislang noch harmlos als Russophobie bezeichnet wurde, nun – im Westen – zu Rassismus wird: „Unter allgemeiner Zustimmung rutschen sie [die westlichen Medien] zudem in eine neue Form des Rassismus. Ich kenne keine andere Nation in der Welt, gegen welche in diesem Ausmaß Hass nach nationalen Merkmalen erlaubt wird, wie die russische.“

Dazu passt auch, dass regierungskritische Organisationen in Russland als „Agenten“ des Westens diffamiert und Opposition als generell vom Westen bezahlt bzw. gesteuert dargestellt wird. Das ist eine alte Geheimdienststrategie, die auch in der DDR verwendet wurde und dort PID (politisch-ideologische Diversion) hiess. Der Begriff entstand, wie das Lexikon der Staatsicherheit weiss, 1956/57 in der DDR, „als Ulbricht in der Auseinandersetzung mit den Anhängern einer inneren Liberalisierung neue Feindmethoden der ideologischen ‚Aufweichung und Zersetzung’ zu erkennen glaubte“. Wer den Staat kritisierte, wurde als „Träger“ der PID kategorisiert. So entledigte man sich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen System.

„Clash within Civilizations“

Die Verschiebung von Kritik vom politischen Feld aufs ethnische oder nationale soll blind machen für die politische Instrumentalisierung von ‚Kulturen’ und für die kulturelle Dimension des Politischen. Eine politische Instrumentalisierung von Kulturen findet immer dann statt, wenn z.B. mit Slogans wie dem „Clash of Civilisations“ (Samuel Huntington) darüber hinweggetäuscht werden soll, dass Nationen, Staaten oder Gesellschaften nicht erst durch „Fremde“ heterogen werden. Sie sind es schon immer, wenn man berücksichtigt, dass es vor allem politische oder religiöse Überzeugungen und ökonomische Unterschiede sind, die Unterschiede hervorrufen, und nicht die Zugehörigkeit zu einer Ethnie – eine ohnehin höchst fluide Kategorie.

Poster für RT’s „Second Opinion“ Werbekampagne in London

Während das gute Eigene und das böse Fremde normalerweise zur rhetorischen Ausrüstung nationalistischer Gesinnung gehören, hat sich nun Russland in diesen Lieblingsbinarismus rechtspopulistischer Politik gedrängt und die Koordinaten verschoben: RT arbeitet quasi daran, für ausländische Leser einerseits ein gutes Anderes bzw. gutes Fremdes zu schaffen – ein blühendes, weltoffenes Russland –, und anderseits die westlichen Gesellschaften – insbesondere Deutschland – als Vorhof der Hölle zu zeichnen.

RT reaktiviert damit die ehemalige mediale Frontlinie zwischen Ost und West. Und die rechtspopulistischen Parteien Europas verlagern diese Frontlinie dankbar ins Innere ihrer Gesellschaften. Das ist die eigentliche Verschiebung, mit der wir es zu tun haben. Die Rechtspopulisten nutzen das, was RT vertritt, um sich als „Opposition“ oder „Alternative“ in ihren Ländern aufzuführen. Die Folge davon ist ein „Clash within Civilizations“, der die für offene Gesellschaften konstitutive demokratische Heterogenität in einen zugleich inneren und äusseren Kulturkampf verwandeln soll. Maskiert werden muss dabei, mit allen Mitteln der Propaganda und der Desinformation, dass nicht Flüchtlinge aus Diktaturen die demokratische Ordnung und die liberalen Lebensweisen bedrohen, sondern die Anhänger autoritärer Staatsformen und totalitärer Gruppierungen. Egal, woher sie kommen.

Von Sylvia Sasse

Sylvia Sasse lehrt Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und ist Mitbegründerin und Mitglied des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK). Sie ist Herausgeberin von novinki und von Geschichte der Gegenwart.

Originalartikel von Sylvia Sasse bei Geschichten der Gegenwart.ch (11.1.2017)