Ein Viertel der Tschechen vertraut «alternativen» Medien mehr als klassischen. Nun soll eine Regierungsbehörde Desinformationskampagnen aufspüren und die Wahl im Herbst vor Manipulation schützen.

Es gebe zwar keinen Grund für unmittelbare Panik, doch die Redaktion empfehle den Lesern, Jodtabletten und Dosimeter zu kaufen. Ein solches Gerät koste rund 10 000 tschechische Kronen, umgerechnet 400 Franken, aber es sei eine Investition in die Sicherheit der ganzen Familie, schreibt das Portal Aeronet weiter. Zudem sollten sich Kinder in den kommenden Wochen vorzugsweise drinnen aufhalten, man solle auf Pilze, Karotten und alle Früchte verzichten, die Radioisotope binden, sowie ab Frühling aus Frankreich importierte Lebensmittel mit dem Dosimeter auf ihre Strahlenbelastung untersuchen.

«Brüssel wie das Sowjetregime»

Grund für die Ratschläge ist eine Explosion im Atomkraftwerk Flamanville in der Normandie Anfang Februar. Bei dieser sei eine gefährliche radioaktive Wolke entwichen, die sich nun über Europa befinde, heisst es in dem Artikel. Entgegen der Darstellung der «Mainstream-Medien» sei die Explosion möglicherweise die Folge eines Terroranschlags, verübt durch Angestellte des Kraftwerks. Viele seien Muslime. Diese Informationen hielten die französischen Behörden und die EU-Eliten allerdings geheim, da sie in der Präsidentschaftswahl Marine Le Pen Auftrieb gegeben hätten. Der Text schliesst mit der Bemerkung, Brüssel verhalte sich wie einst das sowjetische Regime im Umgang mit der Katastrophe von Tschernobyl.

Aeronet bezeichnet sich auf seiner Website als unabhängiges Nachrichtenportal mit Informationen aus «alternativen Quellen». Man schreibe ohne Zensur und politische Korrektheit. Die Reichweite ist zwar im Vergleich zu anderen tschechischen News-Seiten gering. Laut dem Messdienst SimilarWeb wird aeronet.cz rund 800 000 Mal pro Monat aufgerufen. Die Nachricht über die nukleare Wolke verbreitete sich rasch über soziale Netzwerke.

Sie veranlasste das beim Innenministerium angesiedelte Zentrum gegen Terrorismus und hybride Gefahren (CTHH) zum Handeln. Es bezeichnete die Meldung als Lehrbuchbeispiel für Desinformation und zog das Amt für nukleare Sicherheit für eine Stellungnahme bei. Dieses hielt fest, dass es in Flamanville Anfang Februar zwar tatsächlich einen Zwischenfall gegeben habe, jedoch nicht im nuklearen Bereich. Es sei keine Strahlung aufgetreten, und es seien in Tschechien auch keine gesundheitsgefährdenden Werte in der Luft gemessen worden. Zahlreiche klassische Nachrichtenportale berichteten über die Klarstellung.

Das Zentrum nahm seine Arbeit zu Jahresbeginn auf, nachdem eine von der tschechischen Regierung aufgrund der Terroranschläge in Paris und Brüssel eingeleitete nationale Sicherheitsüberprüfung ergeben hatte, dass Tschechien zwar in traditionellen Bereichen wie der Kriminalitätsbekämpfung gut aufgestellt ist. Sogenannte moderne Gefahren wurden aber als ernsthaftes Sicherheitsrisiko erkannt, etwa koordinierte, simultane Angriffe wie bei einem Terroranschlag, Cyberkriminalität oder hybride Attacken ausländischer Mächte durch Einflussnahme und Desinformation.

Das Zentrum präsentiert sich allerdings unspektakulär: 20 Experten, unter ihnen Juristen, Soziologen, IT- und Kommunikationsspezialisten, sitzen vorwiegend am Computer und sollen Hinweise auf Spionage oder Desinformationskampagnen aufspüren. Liegt ein Verdacht auf Desinformation vor, prüft das Zentrum gegen Terrorismus und hybride Gefahren drei Punkte: Handelt es sich um falsche Tatsachen? Stellen diese eine ernsthafte Gefahr für die interne Sicherheit dar? Stehen seriöse und publizierbare Angaben zur Verfügung, um die Fake-News zu korrigieren? Können alle drei Fragen mit Ja beantwortet werden, informiert das CTHH darüber auf seiner Website und über Twitter, was oft von den klassischen Medien aufgegriffen wird.

Zeman und Putin als Helden

Welchen Ursprung die Falschmeldung hat und über welche Quellen sie verbreitet wurde, spielt dabei kaum eine Rolle. Auf neun Fälle von Desinformation hat das CTHH seit seinem Bestehen reagiert, wie das Innenministerium auf Anfrage mitteilt. Sie hätten Falschmeldungen betreffend Migration, das Risiko terroristischer Anschläge in Tschechien oder das Waffenrecht zum Inhalt gehabt. In diesen Fällen habe man die Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Schüren von Angst sowie in der Diskreditierung der Behörden und einem damit verbundenen Vertrauensverlust gesehen.

Es gibt Hinweise, dass oft Russland hinter diesen Desinformationskampagnen steckt, auch wenn das Innenministerium sich dazu ausschweigt. Jakub Janda, stellvertretender Direktor des Think-Tanks European Values, der das Innenministerium berät, nennt einige: Inhalte der vom russischen Staat finanzierten Medienkanäle RT (einst Russia Today) oder Sputnik würden von den «alternativen» Nachrichtenportalen in Tschechien oft einfach übernommen. Auch sonst folgten diese dem Narrativ Moskaus, indem Wladimir Putin oder Tschechiens kremltreuer Präsident Milos Zeman als Helden dargestellt würden und zugleich unentwegt Kritik an der EU oder Angela Merkel geübt werde. Ein Feindbild seien auch klassische Informationskanäle, die als die Wahrheit verschweigende «Mainstream-Medien» dargestellt würden

Laut dem Politologen Janda, der bei European Values das Programm «Kremlin Watch» leitet, werden die Portale, soweit bekannt, kaum von Russland finanziert. Das sei aber auch nicht nötig. Die Betreiber und Autoren seien oft von der Wende enttäuscht und mit dem System unzufrieden. Das russische Weltbild liefere ihnen willkommene Erklärungen.

Rund 100 Desinformations-Kanäle existieren laut Janda in tschechischer Sprache. 41 davon zählt er zu den relevanten Plattformen, weil sie jede Woche mindestens eine neue Story publizieren und monatlich über 5000 Leser erreichen. Bei den meisten dieser Kanäle sei nicht transparent, wer dahinterstehe, sie arbeiteten aber oft vernetzt. Der bekannteste ist die Website Parlamentni Listy, die laut SimilarWeb etwa sieben Millionen Zugriffe pro Monat verzeichnet. Laut einer Untersuchung von European Values vertraut mittlerweile ein Viertel der Tschechen den «alternativen» Medien mehr als den klassischen.

Dass Moskau die Politik in den USA oder Frankreich zu beeinflussen versuchte, erscheint aufgrund der Macht dieser Länder logisch. Tschechien mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist unbedeutender. Doch das Land ist EU- und Nato-Mitglied. Eine kremlfreundliche Regierung könnte Verschärfungen der Sanktionen gegen Russland blockieren. Zudem brauche der Kreml für die Propaganda im Inland Länder, die er als Partner darstellen kann, erklärt Janda.

In einer Studie über die russischen Medien kam European Values zum Schluss, dass Zeman in den vergangenen drei Jahren im Vergleich zur Grösse seines Landes der am zweithäufigsten zitierte Politiker war, obschon seine Funktion vorwiegend repräsentativ ist. Zeman ist ein Bewunderer Putins, kritisiert die Sanktionen gegen Russland regelmässig scharf, betrachtet den Ukraine-Konflikt als Bürgerkrieg und die Krim als russisch. Kein anderer europäischer Spitzenpolitiker äusserte sich in vergleichbarer Weise.

Präsidialer Zensur-Vorwurf

Die EU-Skepsis ist in Tschechien europaweit am grössten. Laut einer neuen Eurobarometer-Umfrage halten nur 33 Prozent der Tschechen die Mitgliedschaft in der Union für positiv – im europäischen Durchschnitt sind es 57 Prozent. Diese Skepsis noch zu befeuern, dient Russland laut Janda. Für Aufsehen sorgte eine Anfang Februar bekanntgewordene Cyberattacke auf das tschechische Aussenministerium, nach der Hacker über ein Jahr lang Zugriff auf das E-Mail-System hatten und Tausende von Dokumenten herunterluden. Aussenminister Lubomir Zaoralek deutete damals an, dass Russland dahintersteckt. Die Attacke ist auch deshalb brisant, weil im Oktober Parlamentswahlen stattfinden. Das CTHH bildete nach der Erfahrung in den USA eine Arbeitsgruppe zum Schutz dieses Urnengangs, die Risiken und Abwehrmassnahmen abklären soll.

Mit dem Zentrum gegen Terrorismus und hybride Gefahren geht Tschechien das vor allem seit Ausbruch der Ukraine-Krise europaweit wachsende Problem von Desinformation gezielt an, findet Janda. Dem Land komme damit eine Pionierrolle zu. Er wird inzwischen von Regierungen anderer Staaten konsultiert. Unumstritten ist das Zentrum jedoch nicht. Der schärfste Kritiker ist wenig überraschend Präsident Zeman. «Wir brauchen keine Zensur, wir brauchen keine Ideen-Polizei», wetterte er in seiner Weihnachtsansprache. Niemand habe ein Monopol auf die Wahrheit.

Moskaus langer Arm nach Ostmitteleuropa

bam. ⋅ Der Kreml unterstützt in Ostmitteleuropa verschiedene rechtsextreme Organisationen, die sich seit Ausbruch der Ukraine-Krise auch verstärkt der Geopolitik widmen. Dabei ist ihnen gemeinsam, dass Nato und EU als Feindbilder gepflegt werden, während Russlands Präsident Wladimir Putin als ideologisches und politisches Vorbild gesehen wird. Ziel ist es, bilaterale Beziehungen zur Ukraine und zu den USA zu untergraben und die Region zu destabilisieren. Zu diesem Schluss kommen die im April präsentierten Ergebnisse eines einjährigen Forschungsprojekts des ungarischen Think-Tanks Political Capital.

So wurden etwa mithilfe von Geldern des kremltreuen russischen Oligarchen Konstantin Malofejew an nationalistische Bewegungen in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn Kundgebungen gegen die Ukraine organisiert. Laut der Studie gibt es in der Slowakei in paramilitärischen Kreisen Personen, die in der Ostukraine gekämpft oder die Separatisten unterstützt haben.

Die polnischen Behörden ermitteln gegen den Anführer der linken Kleinstpartei Zmiana wegen Spionage für Russland, und in Tschechien eröffnete die «Volksrepublik Donezk» im September 2016 ein «Konsulat» mithilfe lokaler rechtsextremer Akteure. Die unterstützten Gruppierungen sind zwar meist sehr klein, in Ungarn wird aber auch gegen den EU-Abgeordneten Bela Kovacs der Partei Jobbik wegen Spionagetätigkeit für Moskau ermittelt.

Die Strategie des Kremls umfasse zudem intensive Desinformationskampagnen über ein prorussisches Mediennetz, schreiben die Autoren. Vor allem in sozialen Netzwerken würden so falsche Nachrichten und Verschwörungstheorien verbreitet, die wiederum ethnische und nationale Konflikte schüren sollten. Zusammen mit dem slowakischen Globsec-Institut und dem polnischen Institut für öffentliche Angelegenheiten (ISP) erstellte Political Capital auch einen Index über die Anfälligkeit der Region für russische Einflussnahme.

Demnach ist Ungarn aufgrund der russlandfreundlichen politischen Führung am stärksten gefährdet, obwohl die Bevölkerung klar westorientiert sei. Am wenigsten beeinflussbar ist laut dem Index Polen aufgrund seiner historischen Erfahrung. In Tschechien trägt die EU-Skepsis zur Gefährdung bei, zudem hat das Land mit Präsident Milos Zeman den wichtigsten prorussischen politischen Akteur der Region. Prag unternehme jedoch mit dem Zentrum gegen Terrorismus und hybride Gefahren (vgl. Haupttext) die grössten Anstrengungen.