Das Berliner Regierungsviertel – Schauplatz eines Informationskrieges? © Fabrizio Bensch/Reuters

Von , , , und Bundestagswahl: Krieg ohne Blut (ZEIT, 26.2.2017)

Ein Mann auf der Krim will die Deutschen mit Fake-News verunsichern, Hacker attackieren die Bundesregierung: Über den erbitterten Kampf um die Bundestagswahl.

Die alternative Wahrheit über Deutschland wird von einem Mann erzeugt, der auf der Krim lebt. Diese Wahrheit besagt, dass Deutschland Massenvernichtungswaffen besitzt, fast alle Flüchtlinge kriminell sind und Angela Merkel Schlägereien anzettelt. Mit dieser Wahrheit will der Mann von der Krim aus die nächste Bundestagswahl manipulieren. Seine Chancen, damit Erfolg zu haben, stehen nicht schlecht.

Der Mann sitzt vor einer grün abgehängten Wand, an einem geheim gehaltenen Ort auf der von Russland annektierten Halbinsel. Er hat einem Gespräch per Skype zugestimmt. Gerne wäre er nach Deutschland gekommen, um mit der ZEIT über seine Ziele zu reden. Doch er darf nicht. Seit er für die von Russland unterstützten Rebellen im Osten der Ukraine gearbeitet hat, steht er auf einer Sanktionsliste. Eine Einreise nach Deutschland ist ihm verboten. Seine Arbeit aber kann er auch problemlos von der Krim aus erledigen. Und er hat Mitarbeiter in Deutschland. Konstantin Knyrik heißt der Mann, er ist Chefredakteur der russischen Nachrichtenagentur NewsFront und leitet eine etwa hundertköpfige Redaktion. Schlagzeilen, die Knyriks Leute zuletzt auf Deutsch und für Deutschland produziert haben, lauten:

„DEUTSCHLAND: ASYLANT ONANIERT VOR JUNGEM MÄDCHEN IN SCHWIMMBAD“

„FREUNDE VON MERKEL HABEN EINE MASSENSCHLÄGEREI IN DORTMUND ANGEZETTELT“

„SACHSEN: ZWEI SEXTÄTER AUS LIBYEN VERGEHEN SICH SEXUELL AN DREI JUNGEN MÄDCHEN“

Die Überschriften werden bei NewsFront immer in Großbuchstaben geschrieben. Viele Inhalte wirken erfunden. Häufig werden reale Ereignisse gezielt aufgebauscht, um Ängste zu schüren. Knyrik und seine Mitarbeiter sagen, die Wahrheit werde durch die etablierten Medien vernichtet. Deshalb nennen sie sich „Kämpfer“ in einem „Informationskrieg“.

Die Agentur ist noch jung und klein, aber sie wächst und sucht für die Monate vor der Bundestagswahl Mitarbeiter in Berlin. Ziel ist, hierzulande eine andere Wahrheit zu verbreiten und diese gegen die vermeintlichen Lügen und Manipulationen der gesteuerten „Systemmedien“ zu verteidigen. Zu diesen Systemmedien zählt Knyrik alle großen Sender und Zeitungen, auch die ZEIT. Denn laut Knyrik gibt es in Europa keine freie Meinung mehr. Er sagt, die Zensur sei in deutschen Medien „sehr verbreitet“, und diese Einschränkung werde immer schlimmer.

Nach eigenen Angaben finanziert sich NewsFront nur durch Spenden und Werbeeinnahmen – aber einem ehemaligen Mitarbeiter zufolge stammt ein großer Teil des Budgets vom russischen Geheimdienst. Bestimmte Themen, sagt der Aussteiger, würden direkt von der Präsidialverwaltung in Moskau vorgegeben. Knyrik bestreitet das. Doch sein ehemaliger Untergebener sagt: „Du bist Propagandist und suchst gar nicht die Wahrheit, sondern führst nur Befehle aus.“ Deutschland im Informationskrieg zu besiegen oder zumindest die Bundestagswahl im Jahr 2017 zu beeinflussen sei „die wichtigste Mission von NewsFront“, meint der Aussteiger. „Für solche Zwecke wurde die Nachrichtenagentur erschaffen.“

Längst gibt es Hinweise darauf, dass Russland versuchen wird, in den deutschen Wahlkampf einzugreifen. So steht es in einem Bericht, den BND und Verfassungsschutz für das Kanzleramt erstellt haben. Das Ziel des Kreml ist es demnach nicht, einer bestimmten Partei zum Sieg zu verhelfen. Es geht darum, das Vertrauen der Bürger zu erschüttern: in die Sicherheit des Landes, in die Stabilität des täglichen Lebens, in die Integrität von Personen und Institutionen. Ein alles zersetzender Verdacht soll sich ausbreiten, die Demokratie schwächen – und jene stärken, deren politisches Geschäft die Angst ist. Ein destabilisiertes Deutschland in einer zerstrittenen Europäischen Union wäre schwach gegenüber Russland.

Wie manipulierbar ist die Bundestagswahl?

Dabei sind gefälschte oder erfundene Nachrichten (Fake-News) nur eine Möglichkeit, im Wahljahr für Verwirrung zu sorgen. Durch Cyberangriffe auf die Strom- oder Wasserversorgung könnte das alltägliche Leben attackiert werden, und sei es nur für Stunden. Durch Hackerangriffe auf Computer des Bundestags oder der Bundesregierung wurden bereits große Mengen an Mails und Dokumenten erbeutet, die – sollten sie gezielt gestreut werden – den Ruf einzelner Politiker beschädigen könnten. Speziell programmierte Meinungsroboter (Social Bots) könnten Stimmung in den sozialen Netzwerken machen. Der Bundeswahlleiter befürchtet, dass am Wahltag selbst Falschmeldungen die Runde machen könnten, wonach Wahllokale geschlossen seien und Bürger dann nicht zur Urne gingen. Das Wahlergebnis stünde infrage.

Prorussische Hackergruppen attackierten die Bundesregierung schon einmal schwer

Deutschland war bereits Übungsfeld für einzelne solcher Attacken. Aber erst das Zusammenspiel mehrerer scheinbar unzusammenhängender Angriffe macht die große Gefahr aus.

7. Januar 2015, gegen 10 Uhr. Die Regierungsmaschine des ukrainischen Ministerpräsidenten ist im Anflug auf Berlin. Arseni Jazenjuk sucht die Hilfe der Bundesrepublik. Im Konflikt mit Russland will er Angela Merkel um Geld bitten. Der russischen Seite gefällt das überhaupt nicht. Um 10.08 Uhr, eine Minute bevor die Maschine von Jazenjuk landet, beginnt eine Cyberattacke gegen die Bundesregierung. Eine prorussische Hackergruppe hat 35.000 Computer unter ihre Kontrolle gebracht, mit denen sie die Internetseiten der Regierung beschießt, sie mit Anfragen bombardiert, so lange, bis die deutschen Rechner überfordert sind. Man nennt das eine Distributed Denial-of-Service-Attacke, kurz DDOS. Später am Tag wird Steffen Seibert, der Sprecher von Angela Merkel, sagen: „Das Rechenzentrum unseres Dienstleisters steht unter einem schweren Angriff.“ Auch die Hackergruppe namens CyberBerkut meldet sich und ruft „alle Deutschen und die deutsche Regierung dazu auf, die finanzielle Hilfe für das kriminelle Regime in Kiew zu beenden“. Es ist eine politische Intervention. Eine Demonstration der Stärke.

In den folgenden 36 Stunden entwickelt sich ein Gefecht, wie es typisch ist für den modernen Informationskrieg. Den prorussischen Hackern stehen in Deutschland ein gutes Dutzend IT-Experten der Firma Babiel gegenüber, die seit Langem für die Bundesregierung arbeiten. Babiel besitzt Rechenzentren, auf denen unter anderem die Internetseiten der Regierung betrieben werden.

Der Eigentümer der Firma, Rainer Babiel, erinnert sich noch gut an dieses Gefecht im Januar 2015. „Die Angreifer haben in Gruppen gearbeitet und zeitgleich Attacken gegen unterschiedliche Teile unserer Systeme ausgeführt.“ Die Angriffe hätten zwei volle Tage ohne Unterbrechung angehalten. „Das bedeutet, es haben sich auf der Gegenseite mehrere Teams abgewechselt, es muss sich um eine größere, straff organisierte Gruppe gehandelt haben.“

Am 8. Januar nachmittags steigt der ukrainische Ministerpräsident wieder in Berlin ins Flugzeug. Kurz nachdem die Maschine gestartet ist, stellt CyberBerkut seinen Beschuss ein.

Eine spätere Untersuchung ergab, dass Rechner aus 137 Ländern für die Attacke genutzt wurden, sagt Babiel. Möglicherweise hatten sich die Hacker dafür ein sogenanntes Bot-Netz gemietet. Bot-Netze werden meist von organisierten Banden aufgebaut und zur Erpressung genutzt – oder gegen Entgelt anderen zur Verfügung gestellt. Das kriminelle Geschäft beginnt damit, dass Hacker eine Schwachstelle in der Software populärer Computersysteme suchen, um dort unbemerkt einzudringen. Sie verschicken massenhaft E-Mails mit einer Schadsoftware im Anhang, darauf hoffend, dass Tausende von Menschen den Anhang unbedacht öffnen. Geschieht das, übernehmen die Banden die Kontrolle über die Rechner, die von nun an ferngesteuert werden. Deshalb auch „Bots“, die Kurzform von „Robots“.

Zwei Jahre sind seit dem Angriff von CyberBerkut vergangen, und die Bedrohung durch DDOS-Attacken ist seither stark gewachsen – weil die Bot-Netze ebenso gewachsen sind. Erst im vergangenen Herbst wurde ein krimineller Verbund entdeckt, der mehr als 1.000.000 Geräte gekapert hatte, 30-mal mehr als die Hacker von CyberBerkut genutzt hatten. Mieten könne man selbst die größten Bot-Netze für wenige Tausend Euro die Stunde, sagt Rainer Babiel.

Die bisher wohl größte DDOS-Attacke traf im vergangenen Herbst die USA, als Angreifer mit rund einer Million gekaperter, webfähiger Geräte angriffen. Sie blockierten dabei Rechner, die für das Verteilen des Internetverkehrs so wichtig sind wie Autobahnkreuze für den Autoverkehr. Danach kamen Firmen, Behörden und Privatleute nicht mehr an ihre Daten.

In Deutschland fiel im November bei 900.000 Kunden der Telekom das Internet aus. Eindringlinge hatten versucht, ein neues Bot-Netz aufzubauen. Aber dann schalteten sich die angegriffenen WLAN-Router der Kunden automatisch ab, bevor sie gekapert werden konnten – eine Art Selbstschutz der Geräte. Hunderttausende Telekom-Kunden waren stundenlang vom Internet abgeschnitten.

Die unsichtbare Streitmacht im Informationskrieg

Nicht immer lassen sich die Spuren nach Russland so eindeutig nachweisen wie bei der DDOS-Attacke von CyberBerkut. „Was Cyberangriffe für ausländische Mächte so sexy macht, ist, dass man eigentlich nie eine smoking gun finden wird, man kann immer wieder falsche Fährten legen und unter falscher Flagge operieren“, sagt Verfassungschutzchef Hans-Georg Maaßen. Aber inzwischen sind die Spuren nach Russland so zahlreich, dass eine groß angelegte Strategie erkennbar wird. Sie fängt bei einem Netzwerk von Fake-News-Seiten an, zu denen auch NewsFront gehört. Sie umfasst Hackerattacken auf die Demokratische Partei in den USA, den Deutschen Bundestag und das Kanzleramt der Niederlande. Die Details dieser Strategie hat der russische Generalstabschef selbst beschrieben – im Februar 2013, in einem Essay für die Wochenzeitung Woenno-Promyschlennyi Kur’er („Militärisch-Industrieller Kurier“).

„Kriege werden nicht mehr erklärt, und wenn sie einmal begonnen haben, verlaufen sie nach einem ungewohnten Muster“, schreibt Waleri Wassiljewitsch Gerassimow. Nicht-militärische Mittel seien bedeutender denn je, in bestimmten Fällen sogar bedeutender als Waffen. Als nicht-militärische Mittel nennt Gerassimow explizit die Kommunikation. Kriege gewinnt nicht, wer mehr Waffen besitzt. Kriege gewinnt, wer die Informationen steuert.

Als der Beitrag erscheint, bekommt das im Westen niemand mit. Aber wie die Strategie funktioniert, ist schon ein Jahr später zu sehen – als Russland die Krim annektiert und dann den Südosten der Ukraine destabilisiert. Ohne dass die Nato oder das ukrainische Militär es ahnen, gelingt es Russland, einen Teil der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Auf der Halbinsel setzt Russland Falschinformationen als Waffe ein: im Fernsehen, im Internet, in Zeitungen. Todesopfer gibt es durch die Intervention keine, weshalb die Militäroperation als Paradebeispiel für die Gerassimow-Doktrin gilt: Eine Mischung aus politischen Täuschungen, geheimen Militäreinsätzen, Cyberangriffen und Desinformationskampagnen.

Im Kanzleramt fürchten Merkels Leute nun Attacken auf Deutschland, besonders auf die Kanzlerin und ihre engsten Vertrauten. Die Cyberangriffe im US-Wahlkampf – als Hacker in die Computer der Demokratischen Partei eindrangen und interne E‑Mails von Hillary Clinton und ihrem Stabschef John Podesta erbeuteten und an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergaben – seien nur ein Vorlauf gewesen. „Der eigentliche Test für Russlands Strategie ist die Bundestagswahl“, glauben sie im Kanzleramt.

16 Gigabyte an Daten erbeuteten Hacker bei einer Cyberattacke auf den Deutschen Bundestag im Mai 2015. Betroffen waren Rechner von 14 Abgeordneten. Hinter dem Angriff steckte dieselbe Gruppe wie beim Angriff auf die US-Demokraten: Fancy Bear, auch bekannt als Sofacy Group, Operation Pawn Storm oder APT 28 (für advanced persistent threat – fortgeschrittene anhaltende Bedrohung).

Seit gut zehn Jahren wird APT 28 von westlichen Sicherheitsbehörden für Hackerangriffe auf militärische und politische Einrichtungen verantwortlich gemacht: auf Rechner der Nato, der OSZE, des Weißen Hauses, der Welt-Anti-Doping-Agentur. Amerikanische und deutsche Sicherheitsbehörden meinen, dass APT 28 von russischen Geheimdiensten gesteuert oder unterstützt wird.

Niemand sollte sich wundern, wenn die Daten aus dem Bundestagshack in den kommenden Monaten auf WikiLeaks oder anderswo veröffentlicht würden. Schließlich benutzten die Täter die gleichen Werkzeuge und Methoden wie beim Hack auf die Rechner der US-Demokraten. Welche Dokumente oder Mails erbeutet wurden, dazu schweigen die Sicherheitsbehörden. Ebenso die Abgeordneten. Sie werden wissen, warum.

Natürlich sind die Rechner des Bundestags heute besser geschützt als noch vor zwei Jahren. Auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ist massiv ausgebaut worden, zu einer „GSG 9 für Cybersicherheit“, wie Amtschef Arne Schönbohm sagt. Zudem arbeitet seine Behörde inzwischen eng mit der Wirtschaft zusammen, um aus Hackerangriffen auf Privatfirmen zu lernen.

Aber ist die Gefahr von möglichen Manipulationen im Wahljahr dadurch geringer geworden? Nicht wirklich. Wenn drei Tage vor der Wahl ein altes Dokument auftaucht, das Merkel oder einen ihrer Minister belastet, hilft auch die beste Cyberabwehr nichts. Wenn die nächste DDOS-Attacke über ein 30-mal größeres Bot-Netz geführt wird als die bisherigen Attacken, wird niemand sie abwehren können. Das ist das Perfide am Informationskrieg: Ob man gut vorbereitet ist, weiß man immer erst, wenn es knallt. Früher zählten Sicherheitspolitiker die Atomsprengköpfe der anderen Seite, sie addierten Divisionen und studierten Marineverbände. Die Stärke einer Armee ließ sich aus dem Weltraum beobachten, fotografieren und in Landkarten eintragen. Aber die Streitmacht im Informationskrieg? Sie ist unsichtbar.

Die amerikanische Cybersicherheitsberaterin Lydia Kostopoulos sagt, es brauche eine andere Sprache, um „staatliche Akteure im Cyberspace“ und ihr Vorgehen zu beschreiben. Ein Wort wie „Armee“ lehnt sie ab. Kostopoulos berät seit Jahren westliche Institutionen und Staaten in Fragen der Cyber-Sicherheitspolitik, sie hat unter anderem für die Nato gearbeitet.

Warum Fake-News so gefährlich sind

„Staatliche Akteure im Informationskrieg haben langfristige Absichten, müssen aber agil und opportunistisch handeln“, sagt Kostopoulos. „Sie nehmen Gelegenheiten wahr. Sie haben ein organisatorisches Zentrum und große finanzielle Ressourcen, aber sie arbeiten oft in einem lockeren Verbund, mit Subunternehmern, Freelancern und Hackergruppen.“ Der Informationskrieg sei eine „battle of creativity“, eine Auseinandersetzung, in der Einfallsreichtum entscheidend sei. Oft müsse man schnell auf Situationen reagieren.

In der alten Welt verschob der Verteidigungsminister im Ernstfall eine Division an eine Grenze oder ließ einen Flottenverband auslaufen. Abschreckung im Informationskrieg ist viel schwieriger. Noch schwieriger ist es, auf Angriffe vorbereitet zu sein. Das gilt besonders bei einer Lügenattacke. Um bewusst verbreitete Falschmeldungen, mit denen Bürger manipuliert werden sollen.

Zeitungsenten hat es immer schon gegeben, und Journalisten waren nie fehlerfrei. Aber Fake-News sind etwas anderes – und viel gefährlicher: Es sind erfundene Meldungen, die gezielt die Funktionslogik der sozialen Netzwerke ausnutzen. Jeder Nutzer kann sich dort zu jeder Zeit empören. Bestimmte Reizthemen lassen sich mühelos instrumentalisieren: die Furcht vor Überfremdung; der Missbrauch von Macht; die Frage von Krieg und Frieden.

Im Kanzleramt und in den Parteizentralen lösen Fake-News größte Sorgen aus. Wenn etwas den Wahlkampf negativ beeinflussen werde, dann am ehesten absichtlich gestreute Falschmeldungen. Denn eine Gesellschaft, in der sich Menschen vor allem über Medien informieren und so ihre politische Meinung bilden, ist bedroht, wenn sich Lügen ausbreiten. Wenn nicht mehr klar ist, was falsch ist und was noch stimmt, dann verlieren Menschen ihr Vertrauen in den Staat. Trifft zu, was sie mir im Fernsehen erzählen? Was ich in der Zeitung lese? Was ich im Netz gehört habe? Misstrauen ist das Gift, das jede Gesellschaft zersetzt. Mithilfe von Fake-News wird dieses Gift in kleinen Dosen injiziert.

Konstantin Knyrik, der von der Krim aus die Falschmeldungen der Agentur NewsFront steuert, sagt, dass täglich 20.000 Menschen in Deutschland die Nachrichten auf seiner Website läsen. Hinzu kämen diverse Partnerwebsites und die vielen Leser, die auf Facebook oder YouTube die Inhalte von NewsFront sähen. Allein auf der Videoplattform YouTube würden NewsFront-Beiträge – viele davon für ein Publikum auf der Krim und in der Ostukraine – pro Tag rund 600.000-mal aufgerufen.

NewsFront gehört zu einem Netzwerk prorussischer Internetseiten, es ist vergleichbar mit RT (früher Russia Today) und Sputnik, die direkt vom Kreml finanziert und gesteuert werden. NewsFront, RT und Sputnik kooperieren und tauschen Inhalte aus. So veröffentlicht NewsFront Artikel, die auf Sputnik erschienen sind. RT bezieht sich auf Experten, die NewsFront interviewt hat. Die Zusammenarbeit ist strategisch gewollt. Denn so hat man gleich mehrere Quellen, selbst für Erfundenes. Und was mehr als eine Quelle hat, erscheint glaubwürdiger.

Seit vergangener Woche muss sich die Bundeswehr mit der absurden Behauptung auseinandersetzen, deutsche Soldaten hätten bei einem Nato-Einsatz in Litauen ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt. Angeblich hat die Nato auch 3.600 Panzer gegen Russland in Stellung gebracht.

Im Januar hieß es, 700.000 Deutsche hätten ihre Heimat verlassen, weil sie Merkels Flüchtlingspolitik nicht mehr ertragen hätten. Nach Silvester kursierte die Falschmeldung, 1.000 Einwanderer hätten eine Kirche in Dortmund angezündet. Nichts davon stimmt. Und seit mehr als einem Jahr verbreitet sich in den sozialen Netzwerken das Selfie eines syrischen Flüchtlings mit Angela Merkel, verbunden mit der Lüge, hier sei Merkel mit einem Attentäter des IS zu sehen. Zwar hat der Flüchtling inzwischen gegen Facebook geklagt, auch sind die ursprünglichen Fotomontagen gelöscht. Bei nicht wenigen Menschen wird jedoch das Bild hängen bleiben: Angela Merkel posierte mit einem Terroristen.

Die beliebteste Falschmeldung war ein Video, das Merkel als geisteskrank darstellte

Wenn so etwas schon lange vor der Wahl geschieht, wie wird es dann erst in den entscheidenden Wochen? In der Regierung und in den Parteizentralen, dort, wo man die Wucht der Lügen fürchtet, sind die Wahlkampfplaner weitgehend ratlos. Wie soll man sich wehren gegen Falschnachrichten, die im Gewand von Enthüllungsgeschichten daherkommen? Die sich in Höchstgeschwindigkeit im Netz verbreiten? Alle Parteien haben sogenannte Rapid Response Teams gebildet: Mitarbeiter in den Wahlkampfzentralen, die ständig die Diskussion in den sozialen Netzwerken beobachten – und notfalls schnell eigene Kommentare oder Zahlen posten. „Aber dem Tempo, der Wucht und der kriminellen Energie der Angreifer haben wir in Wahrheit wenig entgegenzusetzen“, sagt ein erfahrener Wahlkämpfer. Die Dynamik des Netzes gegen die Behäbigkeit des Apparats – ein ungleicher Kampf mit deutlichen Vorteilen für den Aggressor.

In der Endphase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs wurden die 20 erfolgreichsten Falschmeldungen öfter geteilt, gelikt und kommentiert als die 20 erfolgreichsten Berichte seriöser Medien, hat das Onlineportal BuzzFeed ermittelt. Zwar herrschen in Deutschland noch keine amerikanischen Verhältnisse. Aber auch hierzulande zeigt sich eine verheerende Resonanz auf die gezielt gestreuten Lügen. In den öffentlich einsehbaren Facebook-Posts „sind unter den zehn populärsten Links zu Nachrichtenartikeln fünf Quellen von Fake-News und rechtspopulistischen Webseiten“, sagt Johannes Hillje. Er hat im Jahr 2014 den Wahlkampf der europäischen Grünen organisiert, heute berät er Politiker und Parteien beim richtigen Umgang mit falschen Nachrichten. „Die beliebteste Falschnachricht im vergangenen Jahr war ein Video des rechtspopulistischen Senders Rebel News aus Kanada, in dem die Bundeskanzlerin als geisteskrank dargestellt wird“, sagt Hillje. „Auf YouTube hatte dieses Video fast 1,3 Millionen Aufrufe.“

Das Ziel der russischen Gerassimow-Doktrin

Es muss gar nicht immer eine Lüge sein. Perfider und aus Sicht der Absender weitaus wirksamer sind jene Fake-News, die ein Körnchen Wahrheit enthalten, sich also auf ein tatsächliches Ereignis beziehen. Dieses wird dann aber so sehr verzerrt, dass es zur Unwahrheit wird. Solche Unwahrheiten finden am ehesten den Weg in die klassischen Medien, werden von Zeitungen oder Fernsehsendern übernommen und weitertransportiert.

In der Hochphase des amerikanischen Wahlkampfs erfuhren die meisten US-Bürger gar nicht durch ihre sozialen Netzwerke von Fake-News. Sie bekamen über die traditionellen Medien davon mit. Allen voran das Fernsehen hat in den Wochen vor der US-Wahl in Nachrichtensendungen und Talkshows über die kursierenden abstrusen Gerüchte und Lügen berichtet. Das machten sie zwar in hehrer Absicht: erklärend und kritisch. Doch sorgten die traditionellen Medien so für ein weitaus größeres Publikum dieser Falschmeldungen.

Und das ist im Wahljahr 2017 der eigentliche Hebel von Fake-News-Produzenten wie NewsFront, RT oder Sputnik: dass ihre vom Kreml gesteuerten Desinformationen in die Berichte der von den Deutschen hunderttausendfach benutzten Medien einsickern und sich so um ein Vielfaches verbreiten. Jeder einzelnen Falschmeldung werden die Bürger nicht glauben. Aber häufen sich die Verzerrungen und Fälschungen, verschieben sich die Grenzen des Sagbaren und Denkbaren. Dann gilt das Extreme als normal. Und das Unglaubliche als wahr. Genau das ist das Ziel der russischen Gerassimow-Doktrin.

Machtlos gegen Fake-News sind die westlichen Gesellschaften nicht, nur haben sie bisher nicht die absolut wirksame Medizin gefunden; kein Breitband-Antibiotikum, das alle Erreger erwischt. Zwar arbeitet Facebook an einem Faktencheck, bei dem mit journalistischen Methoden überprüft werden soll, ob verdächtige Meldungen gefälscht sind. ZEIT ONLINE gehört zu den Redaktionen, die prüfen, ob sie sich an diesem Faktencheck beteiligen. Aber so wichtig diese Idee ist: Sie hat Grenzen. Und auch beim sogenannten Abwehrzentrum gegen Desinformation, das der Bundesinnenminister aufbauen will, dürfte die Idee ungleich besser als die Wirkung sein: Die Regierung erweckt den Anschein, als habe allein sie den Anspruch auf Wahrheit gepachtet.

Wie sich Gerüchte in einem Wahlkampf verbreiten, von prorussischen Propagandaseiten über soziale Netzwerke in traditionelle Medien, ist gerade in Frankreich gut zu sehen. Dort prägte eine Falschmeldung tagelang die Nachrichten: Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron führe eine Scheinehe und sei in Wahrheit schwul. Ein französischer Parlamentsabgeordneter hatte dies in einem Gespräch mit der russischen Website Sputnik behauptet.

Der Artikel erschien am 4. Februar um 12.19 Uhr bei Sputnik, und von diesem Moment an brach ein Sturm über Macron herein. Binnen wenigen Tagen griffen mehr als 17.000 Blogeinträge, Twitter-Posts, Presseartikel, Radio- und Fernsehbeiträge das Gerücht auf und streuten es. Für ZEIT und ZEIT ONLINE hat das Kölner Unternehmen Unicepta analysiert, wie sich die Lüge weltweit verbreitete. In Frankreich überschlugen sich die Medien mit Berichten über Macrons angebliches Doppelleben.

Allerdings: Emmanuel Macron fiel der Falschmeldung nicht zum Opfer. Er fand Hunderte Unterstützer. Sie verteidigten ihn und schlossen die Reihen. Und die Medien begannen nachzuforschen, wo das Gerücht seinen Ursprung hatte. Von da an drehte sich die Diskussion.

Ob es immer gelingen kann, einen versuchten Rufmord so unbeschadet zu überstehen? Unwahrscheinlich. Macron steht dauernd unter Fake-News-Beschuss, und wie sich das bei der Wahl auswirken wird, ist ungewiss. Trotzdem macht dieses Fake-News-Beispiel auch Hoffnung für den deutschen Wahlkampf. Denn selbst das übelste Gerücht kann noch auf den Absender zurückfallen.


Von , , , und Bundestagswahl: Krieg ohne Blut (ZEIT, 26.2.2017)

DIE ZEIT 08/2017

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 9 vom 23.2.2017. Die aktuelle ZEIT können Sie am Kiosk oder hier erwerben.