Von EU vs Disinfo

„Guantanamo bei Donezk: Die Ukraine hat ein Konzentrationslager für  Separatisten errichtet.“

Im April 2015 wurde diese Botschaft, von Swesda veröffentlicht, dem offiziellen Vertriebskanal des russischen Verteidigungsministeriums.

Die Geschichte erzählte auch, dass „nach den Dokumenten, die in der Anlage gefunden wurden, der Bau von der Europäischen Union finanziert wurde.

Swesda’s Veröffentlichung war kein isoliertes Ereignis. Innerhalb von nur einer Woche im Jahr 2015 verbreiteten verschiedene russische Medien die gleiche sensationelle Botschaft über die Existenz von EU-finanzierten „Konzentrationslagern“ in der Ukraine.

Heute, vier Jahre später, bleibt der Fall ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie eine proaktive Desinformationskampagne funktioniert.

Reaktive pro-Kreml Desinformation

In einigen Situationen ist die pro-Kremlin-Desinformation reaktiv.

Reaktive Desinformation wird eingesetzt, wenn die russische Seite einen besonders schweren Vorfall verübt und oft, wenn Moskau beschuldigt wird, internationale Normen verletzt zu haben. Dies macht reaktive Desinformationen grundsätzlich defensiv. Sie überschwemmt den Informationsraum mit unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Antworten auf die Frage, was wirklich passiert ist; oder sie versucht, die Anschuldigungen gegen den Kreml mit Spott und Sarkasmus von sich weg zu weisen.

Ein bekanntes Beispiel für reaktive Desinformation war die Kampagne des Kremls, die Verwirrung über die wahre Identität der „kleine grüne Männer“ stiften sollte, die 2014 die Krim besetzten.

Die noch andauernde Kampagne Moskaus, um die Wahrheit über den Abschuß der Malaysian Airways Fluges MH17 im Jahr 2014 zu erfahren, ist ebenfalls reaktiv; dasselbe gilt für die Kampagne, die die Aufmerksamkeit von der Verantwortung Russlands für den Nervengasanschlag im März 2018 in Salisbury, Großbritannien, vertuschen soll.

Proaktive pro-Kreml Disinformation

Im Gegensatz zu den plumpen Tatsachenleugnungen und der freien Einbildungskraft, die reaktive Desinformationen charakterisieren, versucht die proaktive Desinformation, ihre Botschaft auf ein gewisses Maß an Wahrheit zu stützen.

Die von Swesda und anderen Pro-Kreml-Medien gezeigten Einrichtungen existierten tatsächlich, und sie wurden tatsächlich von der EU finanziert. Aber es war kein Konzentrationslager und es war nicht für die Inhaftierung von Separatisten gedacht.

Dabei hatte die EU nichts zu verbergen: Im Jahr 2011, als die Einrichtung gebaut werden sollte, veröffentlichte die EU eine Erklärung, in der sie beschrieb, wie sie „30 Mio. € bereitgestellt hatte, um es dem Rückführungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine zu ermöglichen, mit illegalen Migranten umzugehen, die nationale Migrationspolitik zu stärken und in den nächsten zweieinhalb Jahren sieben vorläufige Haftanstalten sowie zwei Betreuungszentren für Migranten zu bauen“.

In diesen und anderen Fällen proaktiver Desinformation ist das Problem das Framing, d.h. die Verwendung des manipulativen Begriffs „Konzentrationslager„, um eine politisch und emotional hochgeladene Geschichte zu schaffen.

Stärken und Schwächen

Was sind nun die Stärken und Schwächen dieser beiden verschiedenen Desinformationsmethoden?

Die Stärke der reaktiven Desinformation liegt in der Instrumentalisierung des demokratischen Grundsatzes, dass unterschiedliche Meinungen gehört werden sollten. Indem sie ihre Nebelwände so präsentieren, als gäbe es relevante alternative Standpunkte, spricht die reaktive Desinformation unseren Instinkt der Fairness an: Sie hofft, dass die Zuschauer zumindest einen gewissen Grad an Kompromiss akzeptieren, der auf der falschen Gleichwertigkeit zwischen den Fakten und der Desinformation beruht.

Die Schwäche reaktiver Desinformationen besteht darin, dass sie, sobald ihre Behauptungen von sachkundigen und investigativen Journalisten auseinander genommen wurden, ihre Macht verlieren – und die Hauptverantwortlichen hinter den Desinformationen als nicht vertrauenswürdig herausgestellt werden. Mit anderen Worten, reaktive Desinformation kann nur Zeit heraus schlagen.

Proaktive Desinformation hat ihre Stärke darin, dass sie sich auf eine Erzählung konzentriert und genau diese eine Erzählung wiederholt, bis sie an Fahrt gewinnt. Durch die Anwendung eines Elements der Wahrheit erschwert es auch die Arbeit von Faktenprüfern und damit die Aufdeckung der Desinformation. Der desinformative Akteur kann sich ausschließlich auf sensible Fragen seines Gegenübers konzentrieren – im Falle der KZ-Narrative berührt die Desinformation die Migration und die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine.

Hat proaktive Desinformation irgendwelche Schwächen?

Die Frage ist, welche Risiken proaktive Desinformationskampagnen eingehen, wenn es sie überhaupt gibt.

Wenn Zielgruppen, die nicht die primäre Zielgruppe einer proaktiven Desinformationskampagne sind, dem manipulativen Framing ausgesetzt sind, lässt dies den desinformationsfähigen Akteur problematisch erscheinen. So wird beispielsweise für diejenigen, die normalerweise nicht unter dem Einfluss von pro-kremlischer Desinformation stehen, wahrscheinlich klar sein, dass die KZ-Narrative ein Weg ist, die Ukraine zu einem akzeptablen Ziel der Aggression des Kremls zu machen, indem die Behörden in Kiew mit dem Nationalsozialismus assoziiert werden.

Ukraine unter Informationsfeuer: In den letzten fünf Jahren haben russische staatliche Medien proaktive Desinformation eingesetzt, um die Ukraine in ein akzeptables Ziel der Aggression zu verwandeln.

Schließlich kann sich auch innerhalb der Gemeinschaft, die das Hauptziel der Desinformation ist, in diesem Fall dem russischen inländischen Publikum, ein allgemeines kritisches Bewusstsein über die desinformativen und propagandistischen Quellen und die Politik, der sie dienen, entwickeln. Und russische Journalisten waren zunehmend an vorderster Front bei der Herausforderung reaktiver und proaktiver Desinformationen.

Wenn das Bewusstsein in diesen Zielgruppen auf ein bestimmtes Niveau gehoben wird, werden sie anfangen zu fragen, ob es sich lohnt, dem, was sie hören, zu vertrauen. Und die Stimmen der russischen Kommentatoren deuten seit kurzem darauf hin, dass Russland tatsächlich mehr verloren hat, als es mit seinen Desinformationskampagnen gewonnen hat.

Von EU vs Disinfo

Wie StopFake dokumentiert hat: Im Zusatz zu dem Beitrag von Swesda, gab es auch Berichte bei REN TV und bei News Front (die Swesda zitierten). Im Jahr zuvor, im Oktober 2014, bezeichnete der russische Staatsfernsehsender Rossiya 24 auch die Gebäude als „Konzentrationslager“, und bereits im April 2014 präsentierte der russische Staatsfernsehsender Rossiya 1 die Gebäude als „Lager für die Protestierenden in Charkiw, Donezk und Slowjansk“.

*Folgen Sie diesem Link zur EUvsDisinfo-Datenbank, um Beispiele zu sehen, wenn der Begriff „Konzentrationslager“ in pro-kremlischen Desinformationen vorkommt.