Ukrainer träumen davon, ins Jahr 2013 zurückzukehren, – unter einem solchen Titel hat die russische Webseite Fond Strategischeskoj Kultury einen Artikel veröffentlicht. Dieser Artikel ist ein manipulativer Versuch die Deutschlandfunk Kultur-Reportage Aufbruch gegen Widerstände, verfälschend wiederzugeben. Die hörenswerte Reportage wurde von den deutschen Journalisten Gesine Dornblüth und Thomas Franke produziert. Die Reportage zeichnet ein vielfältiges Bild der Ukraine fünf Jahren nach dem Euromaidan. Beide Journalisten sind insgesamt 2.500 km quer durch die gesamte Ukraine gereist. Dabei haben sie die westukrainische Stadt Drohobytsch, die südostukrainische Hafenstadt Mariupol sowie die Hauptstadt Kiew besucht, um ein möglichst komplettes Bild des Landes zu erzeugen.

Website Fond Strategischeskoj Kultury

Als erstes, zitiert die russische Webseite Fond Strategischeskoj Kultury nur eine einzige Facette des deutschen Artikels, nämlich die die am besten in das Standard-Narrativ der russischen Medienerzählungen passt: „Ukrainer träumen davon, ins Jahr 2013 zurückzukehren und bereuen, dass der Euromaidan überhaupt stattgefunden hat“. Diese Aussage ist aber völlig aus dem Kontext gerissen, wenn man die gesamte Sendung anhört und entspricht einer manipulativen Interpretation der Reportage über die heutige Ukraine.

Angebliche Spaltung der Ukraine

Die russische Veröffentlichung betont am Anfang „Die Aktionen der Revolutionäre führten zu einer Spaltung des Landes. Im Laufe der Jahre ist das Land immer noch geteilt und die Korruption blüht“. Im Originalartikel des Deutschaltfunks steht aber „Was als Proteste gegen Korruption begann, führte zur Spaltung der Ukraine. Heute blüht die Korruption weiterhin“. Wir sehen also es gibt keine Behauptung beim DLR, dass die Ukraine jetzt geteilt ist. Ganz im Gegenteil, wenn man sich den Audiobeitrag und das Interview mit den beiden Autoren Gesine Dornblüth und Thomas Franke anhört, wird man zum einen anderen Schluss kommen:

In der Anmoderation fragt die Moderatorin Margarete Wohlan: Ist die Ukraine ein geteiltes Land, in dem der Westen versucht, den Rechtsstaat zu etablieren? (ab 01:10 in dem Beitrag zu hören)

Auf dieser Frage antwortet die verantwortliche Journalistin Gesine Dornblüth: Ich denke nicht, und erklärt weiter, dass es doch Unterschiede zwischen West- und Ostukraine gibt, die Art des Lebens zwar durchaus unterschiedlich ist, jedoch bleibt die Ukraine, so Dornblüth, ein einiges Land, dessen Bevölkerung sich um die gleichen Probleme und Sorgen kümmern muss.

Dementsprechend verdreht die russische Publikation wieder die Quelle und versucht eigene Realität über die Ukraine zu kreieren. Dabei fehlt in dem russischen Artikel der Satz der deutschen Moderatorin „Nach dem Maidan begann die Russische Annexion der Krim“, der am Anfang des Beitrags deutlich ausgesprochen wurde. Interessanterweise bevorzugen es russische Medien darüber lieber zu schweigen.

Verneinung aller Erfolge der Ukraine

Russische Erzählungen über die Ukraine sind dafür bekannt, alle Erfolge der Ukraine nach dem Euromaidan zu leugnen oder zu verschweigen, um das Bild der Ukraine als failed state zu verschärfen. Der jetzt vorliegende Artikel Ukrainer träumen davon, ins Jahr 2013 zurückzukehren ist dabei keine Ausnahme. Deswegen wird die Hauptidee der Reportage, die Darstellung vieler verschiedener Stimmen aus der gesamten Ukraine, im russischen Artikel völlig ausgeblendet: „Und trotzdem versuchen viele Bürger, ihr Land zu reformieren“.

Der Deutschlandfunk präsentiert in seinem Artikel eine Erfolgsgeschichte aus der kleinen westukrainischen Stadt Drohobytsch. Die Stadt nennt sich nun „Smart City“ und unterstützt aktiv Reformen in den Bereichen Digitalisierung, Open Data und E-Democracy. „2017 bekam Drohobytsch dafür einen Preis des Europarates für ausgezeichnete lokale Selbstverwaltung“, kann im Artikel bei dem Deutschlandfunk gelesen werden.

Und wie zeichnet die russische Webseite diese Erfolgsgeschichte nach?

„Doch in einer solchen Modellstadt fanden die deutschen Korrespondenten keine größeren Veränderungen zum Besseren, außer dass „sie begannen, die Straßen zu reparieren“, so die Anwohner. Aber hat es sich gelohnt, das Land zu spalten, um die Straßen zu reparieren?“

In dem zitierten kurzen Abschnitt sehen wir mehrere Verdrehungen, die die Leser in eine falsche Richtung führen sollen.

  1. Dass „die deutschen Korrespondenten keine größeren Veränderungen zum Besseren“ fanden – darüber steht im Originalartikel kein Wort.
  2. Die wiederholte Behauptung über die Spaltung der Ukraine, die beide deutsche Korrespondenten am Anfang des Beitrags verneint haben.
  3. Leugnung alle Erfolge der Ukraine nur weil sie als Folge des Euromaidans aufgetreten sind (was aus russischer Lesart nicht sein darf.)

Stimmen aus Mariupol

Nach dem Besuch in der Westukraine fuhren die deutschen Journalisten in die ostukrainische Hafenstadt Mariupol und beschreiben ihre Eindrücke dort folgendermaßen: „Die Angst vor Russland ist in Mariupol allgegenwärtig. Denn als 2014 in vielen Städten der Ukraine engagierte Bürger begannen sich einzumischen, brach in der Ostukraine der von Russland geschürte Krieg aus. Kurzzeitig war auch Mariupol umkämpft, es gab Dutzende Tote”.

In dieser Weise kommt die russische Veröffentlichung zum empörenden Schluss: „Aus irgendeinem Grund entschieden die Deutschen, dass „in Mariupol die Angst vor Russland allgegenwärtig ist“. Und weiter – „Aber sie haben das klar von sich selbst geschrieben“. Es scheint so zu sein, dass der nicht genannte Autor des russischen Artikels denkt, die deutschen Journalisten verwenden die Methoden seiner russischen Kollegen und schreiben etwas „von sich selbst“. Dutzende Tatsachen zeigen aber, dass Gesine Dornblüth und Thomas Franke alle Gründe dafür haben, um zu behaupten, Menschen in Mariupol leben wirklich in Angst vor Russland. Dabei ist einen Raketenangriff von 24. Januar 2015 in Mariupol zu erinnern, bei dem mindestens zehn Menschen sollen getötet wurden. Der Fall scheint den russischen Medien augenscheinlich unbekannt zu sein.

Screenshot – FAZ-Artikel – Angriff auf Mariupol

Die Korrespondenten beschreiben weiter: „Russland blockiert die Einfahrt zum Asowschen Meer, hält Frachtschiffe, die Mariupol anlaufen wollen, mit langwierigen Kontrollen auf. Der Hafen ist meist leer”.

In der Stadt treffen Gesine Dornblüth und Thomas Franke eine Frau, die sagt, dass das Leben in der Hafenstadt deutlich schwieriger geworden ist, deswegen möchte sie zurück ins Jahr 2013, als es Stabilität gab. Jedoch betont die Mariupol-Bürgerin, sie „liebt die Ukraine und will nicht nach Russland“.

Genau diese Frau porträtiert die russische Seite Fond Strategischeskoj Kultury nun manipulativ und zitiert sie, um sie als einzige repräsentative Frau zu zitieren und sie als Sinnbild für ihren Artikel zu nehmen.

Der Fond Strategischeskoj Kultury macht auf Teilnehmer des Rechten Sektors aufmerksam (welcher „als Partei auf[tritt] und paramilitärisch [ist]“), den die deutsche Journalisten auch in Kiew treffen. Die russische Seite vergisst aber zu erwähnen, „seit dem Maidan der Rechte Sektor an Bedeutung verloren [hat]. Er und die beiden weiteren rechtsradikalen Parteien liegen in Umfragen zusammengenommen unter fünf Prozent”. Die Reportage Aufbruch gegen Widerstände betont, dass der Rechte Sektor trotzdem der Lieblingsfeind der russischen Propaganda ist. Dies weist Fond Strategischeskoj Kultury völlig nach, da die Seite die Bedeutung von rechtsradikalen Parteien in der Ukraine maßlos übertreibt und über ihre geringe Unterstützung in der ukrainischen Gesellschaft schweigt.

Das Leitmotiv des Artikels bei dem Deutschaltfunk ist in den Stimmen der zwei befragten Ukrainer zu lesen. Es geht darum, dass trotz der Korruption und trotz des alten politischen Systems, dass auch nach den Maidan-Proteste noch geblieben ist, gibt es immer noch das hartnäckige Streben der ukrainischen Menschen nach weiterer, ständiger Veränderung.

„Ich denke, wir müssen fortsetzen, was auf dem Maidan begonnen wurde. Und jeder sollte bei sich selbst anfangen“, sagt Kolja, 22-jähriger Student, der auf dem Maidan blau-gelbe – Symbole der Ukraine und des Euromaidans – verteilt.

„Ich persönlich glaube fest, dass alle Veränderungen in der Ukraine nicht erst dann beginnen, wenn der Präsident sich ändert, das Parlament und andere Institutionen, sondern dann, wenn wir selbst uns ändern, wenn wir anfangen, unsere Stadt, unser Dorf zu regieren. Dann fangen wir an, unseren Staat zu lenken, und nicht anders herum“, zitiert der Artikel den  Bürgermeister der ukrainischen Stadt Drohobytsch, Volodymyr Konziolka.

Der russische Artikel kommt aber zu einer anderen Schlussfolgerung: „In der Tat, die Ergebnisse des Maidans – die Spaltung des Landes, Zehntausende von Getöteten, der anhaltende Bürgerkrieg, die Entstehung von verschiedenen neonazistischen Organisationen“. Nehmen wir nun jede einzelne Behauptung dieser Zitate und analysieren:

  1. Die angebliche Spaltung der Ukraine ist ein Mythos der russischen Propaganda, der schon in diesem Artikel mehrmals entlarvt wurde (siehe oben). StopFake hat mehrmals die Behauptungen der russischen Medien über die Spaltung des Landes entlarvt.
  2. Zehntausende von Getöteten sind keine wahre Information. Es geht um zehntausend Tote, nicht zehntausende. Allerdings berichten russische Medien nicht so gern davon, warum der Konflikt in der Ostukraine ausgebrochen ist. Nach dem Gewinn des Euromaidans, als die Gesamtsituation innerhalb der ukrainischen Regierung und der gesamten Ukraine unübersichtlich war, annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim und förderte aktiv und mit reichlich Propaganda separatistische Bewegungen in der Ukraine. Letztlich führte das direkten Eingreifen der russischen Armee in der Ukraine auch zu dem militärischen Großkonflikt in der Ostukraine, dessen Folgen wir jetzt feststellen können. Die von Russland unterstützen Militärgruppierungen haben in der Ostukraine eigene so genannte und selbsternannte „Volksrepubliken“ gegründet. Diese Republiken werden aber tatsächlich aus dem Kreml regiert und von Russland mir Ausrüstung, Direktiven, mit Lebensmitteln und mit Personal unterstützt.
  3. Das Märchen des anhaltenden Bürgerkriegs ist auch eine Fälschung der russischen Propaganda. Tatsächlich geht es um einen Krieg zwischen der ukrainischen Armee und von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine. Ohne Russland wäre dieser sogenannte „anhaltende Bürgerkrieg“ nicht möglich.
  4. Die Entstehung von verschiedenen rechtsradikalen Organisationen ist noch eine weitere Fälschung. Alle rechtsradikalen Parteien der Ukraine liegen in Umfragen zusammen unter weniger als fünf Prozent und spielen in dem ukrainischen Parlament Werchowna Rada insgesamt keine große Rolle.

Und als Letztes, niemand von den Befragten aus der Ukraine, außer der ungenannten und nicht namentlich zitierten Frau aus Mariupol hat gesagt, dass er ins Jahr 2013 zurückzukehren würde. Fond Strategischeskoj Kultury manipuliert damit, verallgemeinert die Meinung einer Ukrainerin und macht die repräsentativ für die ganze Bevölkerung des Landes.


Dazu abschließend noch ein Kommentar der Autorin der Reportage von Gesine Dornblüth selbst in einem abschließenden FB-Post:
Weiter der FB-Post:
„Der Deutschlandfunk zieht keine Schlüsse. Der Grund ist,
wahrscheinlich, dass die Schlüsse zu traurig für den europäischen Leser wären, der davon überzeugt ist, dass Europa all die Jahre einen „jungen demokratischen Staat“ unterstützt hat – die Ukraine. In der Tat ist die Bilanz des Maidan – eine Spaltung des Landes, zehntausende
Tote, ein anhaltender Bürgerkrieg, das Auftauchen aller
möglichen neonazistischer Organisationen. Das könnte ein bitterer Preis sein für den Sieg über die Korruption im Land. Aber die Korruption ist nur stärker geworden und gewachsen, das Volk aber träumt von der Rückkehr in die glückliche Vergangenheit vor dem Maidan.“ – Zitatende.

Das stimmt nicht: Es gibt keine „zehntausendE“ Tote, sondern laut UN-Angaben rund zehntausend, es gibt keinen „Bürgerkrieg“, sondern eine russische Aggression, es gibt zwar neonazistische Gruppen, aber sie sind sogar schwächer als in anderen europäischen Staaten. Die Korruption in der Ukraine schließlich ist lt. Korruptionsindex von Transparency International leicht zurückgegangen, allerdings nach wie vor ein zentrales Problem der Ukraine. Von der Rückkehr in die Zeit vor dem Maidan träumt allenfalls ein Teil der Bevölkerung. Die Frau am Strand von Mariupol ist nur eine von vielen Stimmen in der Sendung.

Der „Fond strategicheskoj kul’tury“ ist eine von vielen mit Staatsgeldern finanzierten russischen Stiftungen, die mit solchen und ähnlichen Texten versuchen, die öffentliche Meinung im Sinne der Führung der Russischen Föderation zu beeinflussen.

Es ist eine mittlerweile wohl bekannte Instrumentalisierung unserer Berichterstattung. Sie ist ärgerlich, aber offensichtlich müssen wir uns daran gewöhnen. Und die Denkscheren? Niemals!“