Am 15. November hat die italienische Politsendung „Matrix“ des Fernsehsender „Canale 5″ einen Aufsehen erregenden Beitrag veröffentlicht, der auch teilweise auch in deutschen Medien Widerhall fand. Dazu später mehr.

Der italienische Dokumentarfilmer Gian Micalessin präsentierte den Beitrag mit dem Titel „Ukraine, die verborgenen Wahrheiten“ („Ucraina, le verità nascoste“). In dem Beitrag schildert Micalessin seine eigene Version darüber, wer angeblich hinter den Maidan-Schüssen vom Februar 2014 stecken soll.

Die Maidan-Scharfschützen gestehen und offenbaren eine beunruhigende Wahrheit, wer hinter dem Massaker an [Maidan]-Demonstranten [Schuld ist]. Es gab keine Männer des russlandfreundlichen Präsidenten Janukowitsch, sondern die [ukrainischen] Oppositionsführer, die von der Europäischen Union unterstützt wurden, [stehen hinter den Schüssen, Anm. StopFake].“

schreibt der Autor Gian Micalessin über seine alternative Realität in der Ankündigung seines eigenen Facebook-Posts. Am 16. November lud er den gesamten Beitrag auf seiner Facebook-Seite hoch.

Wir möchten daran erinneren, dass der „Canale 5“, der den Film „Ukraine, die verborgenen Wahrheiten“ zeigt, zum ehemaligen Premierminister Italiens Silvio Berlusconi gehört, der für seine enge Freundschaft mit Wladimir Putin bekannt ist. Ein weiterer Artikel über den Film erscheint auf einer anderen italienischen Website Gli Occhi Della Guerra, die einem Freund des russischen Präsidenten gehört. Der Youtube-Kanal Gli Occhi della Guerra hat am 19.11.17 auch eine englischsprachige Version des Beitrags veröffentlicht.

Micalessin Wahrheit sollte auch die Grenzen Italiens überschreiten und wurde drei Tage nach der Veröffentlichung am 19.11.2017 von Heise-Online aufgegriffen. Heise-Online präsentiert sich dabei leider nicht zum ersten Mal als Verbreiter für (russische) Desinformation. So wurden auch schon früher eindeutig pro-russische und manipulative Artikel von dem freien Journalisten  veröffentlicht. In der Sache sei auf ein Exklusiv-Interview mit dem ehemaligen ukrainischen Ministerpräsident Asarow und Vertrauten von Ex-Präsident Janukowytsch mit dem vielsagenden Titel Ohne Hilfe der USA hätte es keinen Staatsstreich gegeben“ hingewiesen. Darüber hinaus wurden tendenziöse MH17-Artikel bei Heise-Online veröffentlicht, wonach die Ermittlungsergebnisse des internationalen Teams für die Kriminalermittlungen für den Abschuss von MH17 (Joint Investigation Team, JIT), in Frage zu stellen sind.


Darüber hinaus fand die Geschichte bei klassischen Verbreitern russischer Desinformation Abnehmer: Der linksradikalen und klassisch pro-russischen Jungen Welt,  mit dem vielsagenden Titel:  „»Verborgene Wahrheiten« in der Ukraine. Neue Indizien für frühe Pläne zur Eskalation der Gewalt seitens der »Proeuropäer« auf dem Maidan“ von Reinhard Lauterbach. Sowie, wenig überraschend, spekuliert und mutmaßt der staatliche russische Desinformationskanal RT Deutsch:

Lange galt es als offenes Geheimnis, dass nicht Polizeieinheiten am 20. Februar 2014 in Kiew auf Demonstranten schossen, sondern Unbekannte aufseiten der Aufständischen. Nun lassen mutmaßliche Beteiligte mit Aussagen im italienischen Fernsehen aufhorchen.“ (RT Deutsch, 24.11.17.) 

RT Deutsch gilt nicht umsonst als Aushängeschild russische(r) Propaganda für deutsche Zuschauer und macht als Desinformationskanal laut der Süddeutschen volles Rohr Programm für den Kreml.


Die italienische Matrix-Fälschung wurde von traditionellen russischen Desinformationsmedien wie Vesti, Novosti Mirza, Novostnoe Kharkov Agentur, Comitet, Antifashist, Warfiles, Alternatio, Ronin, Politnavigator und Narodny Korrespondent verbreitet. Das Video wurde auch breit in Bulgarien, sowie im englischsprachigen Teil von Facebook verbreitet. Auch ukrainische Webseiten, wie der ukrainische Fernsehsender 112 berichteten über die Geschichte, vor allem über die angebliche Beteiligung von georgischen Staatsbürgern bzw. Scharfschützen.



Worum geht es in dem Matrix-Beitrag genau?

Wir werden in unserer Untersuchung Schritt für Schritt vorgehen, um alle auftretenden Fakes und Falschberichte zu analysieren und die aufgestellten Thesen und angebliche Beweise zu entlarven.

Beginnen wir mit der Anmoderation. Bereits in der ersten Minute des Beitrags stellt Matrix-Moderator Nicola Poro das Thema vor:

„Dieser Konflikt hat uns auch betroffen. Seitdem haben wir Europäer, insbesondere Unternehmer, jeden Tag den Preis für die Sanktionen gegen Russland, in Bezug auf die Situation in der Ukraine, bezahlt.“

Matrix-Moderator Nicola Poro

Aber zuerst die erste Richtigstellung: Die Europäische Union führte Sanktionen gegen die Russische Föderation, nicht wegen den Maidan-Ereignissen oder wegen der allgemeinen Situation in der Ukraine ein; sondern wegen des militärischen Eingreifens von Russland gegenüber der Ukraine. Ein Eingreifen, welches die Souveränität der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim betraf.

Zweitens: Italienische Unternehmer leiden weit weniger unter denen von der EU eingeführten Sanktionen als unten den von Russland ergriffenen Gegenmaßnahmen, welche nämlich Einfuhrverbote von Obst, Gemüse, Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel, Fisch, Käse und Milchprodukten aus den USA, den EU-Mitgliedstaaten, Australien, Kanada und Norwegen betrifft.

Nikola Poro stellt uns dann unseren bereits vorgestellten Gesprächspartner und Militärkorrespondenten Gian Micalessin vor – und befragt ihn, wo er die Scharfschützen getroffen hat:

„Ich habe mich mit ihnen, nach einjähriger Untersuchung getroffen … mit zwei von ihnen fand das Treffen in Mazedoniens Hauptstadt Skopje statt, mit dem dritten – in einem anderen osteuropäischen Land“. Laut Gian Micalessin wurden diese Georgier „vom damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili geschickt, um an der ukrainischen Opposition teilzunehmen.“

Diese Aussage ist auch nicht korrekt. In der Tat beendete Saakaschwili seine zweite Amtszeit am 17. November 2013. Während der im Film beschriebenen Maidan-Ereignisse ist Saakaschwili bereits der ehemalige Präsident Georgiens. Wir wollen bei dieser kleinen Ungenauigkeit nicht aufhören, wenn es nicht bezeichnend wäre, wie frei der Journalist Micalessin Tatsachen handhabt, die mittels Sekunden überprüft werden und widerlegt werden können.

Von Anfang an ist klar, dass es nicht das Ziel des Beitrags war, Fakten zu präsentieren und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Es soll vielmehr die Theorie widerlegt werden, wonach „das Massaker im Auftrag der pro-russischen Regierung begangen wurde“. Es soll im Beitrag eine alternative „Wahrheit“ gezeigt werden, wonach die Maidan-Morde von Führern der ukrainischen Opposition angeordnet und von einer Gruppe von Scharfschützen aus Georgien und Litauen durchgeführt wurde.

Insgesamt gibt es aber keine Sensation oder neue Fakten im italienischen Beitrag, weil viele bekannte Fälschungen nur adaptiert oder neu aufgewärmt wurden: Wir weisen hierbei auf unsere eigenen StopFake-Untersuchungen hin: Informationen der Ärztin Olga, Geschichten über georgische Sniper, amerikanische Hilfe/Helfer für den Maidan usw., alles Fälschungen, die bereits seit dem Jahr 2014 in Umlauf sind. Alle diese Fakes werden in dem Beitrag zusammen gemengt, mit teatralischer Dramatik unterlegt und mit neuen „Zeugen“ versehen.


  1. Der erste „Beweis“ – die Berichte von Olha Bohomolez:

Die Macher des Videos müssen die Version über die Schuld der damaligen ukrainischen Regierung über die Ereignisse auf dem Maidan widerlegen und die Zuschauer auf den Gedanken bringen, dass Scharfschützen von ukrainischen Oppositionsführer beauftragt wurden. Um dies den Zuschauern zu verdeutlichen wird ein mitgeschnittenes Telefongespräch präsentiert.

Dabei wird dem Zuschauer ein Telefongespräch zwischen dem damaligen estnischen Außenminister Urmas Paet und der damaligen hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton vorgeführt. (Video-„Dokumentation“ von 3:28min). Der Ausschnitt der „abgefangen und durch die Medien verbreitet“ wurde, zitiert wie folgt:

„Olga sagte mir … dass Beweise zeigen, dass durch Scharfschützen Menschen auf beiden Seiten getötet wurden – die Polizisten und die Demonstranten wurden von den gleichen Scharfschützen getötet, sie schossen also auf beide Seiten… Sie zeigte mir Bilder und sagte, dass sie als Arzt sagen kann, dass die „Handschrift“ die gleiche ist und die Kugeln die gleichen sind. Und am beunruhigendsten ist, dass die neue Koalition jetzt nicht untersuchen will, was genau passiert ist. Die Überzeugung wächst, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch, sondern einer von der neuen Koalition steckt.“

Das mitgehörte Gespräch, das tatsächlich am 26. Februar 2014 stattfand, wird von den Medien nicht „entdeckt„. Denn interessanterweise wurde der Datensatz am 5. März auf Youtube von einem Benutzer namens Expertise Center der Russischen Föderation“ hochgeladen. Urmas Paet bestätigt, dass er tatsächlich ein solches Gespräch geführt hat. Er gibt aber auch an, dass er keine Fakten mitgeteilt habe, sondern lediglich verschiedene mögliche Versionen nacherzählt hat. Der estnische Minister Urmas Paet geht davon aus, dass die Konversation abgehört und später absichtlich verbreitet wurde, um die neue ukrainische Regierung zu diskreditieren.

Am 5. März 2014 erzählte die Ärztin und Maidan-Aktivistin Olha Bohomolez Journalisten, dass sie Paet in erster Linie nicht von Toten auf beiden Seiten erzählt habe, weil sie die Leichen der ermordeten Milizionäre nicht persönlich gesehen habe. Zweitens vermutet sie, dass die Scharfschützen von Maidan wahrscheinlich von der Opposition geführt wurden. Sie fügt aber auch hinzu: Ich denke aber, solche Dinge können wir nur auf der Grundlage von Fakten behaupten“, sagte Sie der britischen Tageszeitung Daily Telegraph. Dem können wir uns nur anschließen.

Wir bemerken, dass die russische Propaganda dieses Gespräch aktiv ausnutzt, ohne dabei die Richtigstellung und Erklärungen von Olha Bohomolez zu erwähnen. Eine Google-Suche auf Russisch nach den Stichworten „Gespräch, Paët, Эштон“ zeigt uns rund 11.300 Ergebnisse.

Was die Behauptung betrifft, dass „die neue Koalition nicht untersuchen will, was geschehen ist“, antwortet Bohomolez leider nicht mit der Wahrheit.

Erstens: Am 25. Februar 2014, beantragt die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung, wonach eine strafrechtliche Untersuchung die Fakten über die Organisation der vorsätzlichen Morde während Massenveranstaltungen auf dem Maidan in der Zeit von November 2013 bis Februar 2014 untersuchen soll.

Zweitens laufen die Ermittlungen gegenwärtig weiter und 155 Anklagen werden in Bezug auf 239 verdächtige Personen vor ukrainischen Gerichten behandelt. 49 Personen wurden für 42 Verurteilungen für schuldig befunden. Eine Person verbüßt ​​bereits seine Strafe. Das der Fortschritt der Untersuchungen schneller von statten gehen könnte, steht außer Frage. Ein Großteil der befindlichen verdächtigen Personen hat sich nach den Februar-Tagen aber auf die Krim oder nach Russland abgesetzt, dazu später mehr.

Screenshot rrg.gp.gov.ua

II. Angebliche georgische Scharfschützen – ein Märchen

Nach einem kurzen Überblick über die Ereignisse von 18. bis 22. Februar 2014 führt uns der Beitrag zu einigen Mitgliedern der Gruppe „die an diesem Tag Feuer auf die Menge eröffnet haben“.

Es werden uns Alexander Revazishvili, Koba Nergadze und Salogi Kvaratskeliya als Schützen vorgestellt.

Sie können diese Namen aber nicht leider im Internet suchen, erklären die angeblichen „Scharfschützen“. Denn diese waren so umsichtig mit (angeblich) gefälschten Papieren in die Ukraine einzureisen.

Der Autor stellt „hinter der Bühne versteckte Schauspieler“ vor, „den ehemaligen Präsidenten von Georgien Saakaschwili“ und „sein Militärberater“ Mamuka Mamulashvili, der laut der Autorenstimme „nach Kiew geschickt wurde um die Maidan-Proteste zu unterstützen“. Eine Behauptung, die später von Bedeutung sein wird.

Koba Nergadze, einer der „georgischen Scharfschützen“, erzählt, wie er in der georgischen Hauptstadt Tiflis im Büro der „Nationalen Bewegung“ rekrutiert wurde. Dies ist eine Partei von Saakaschwili „Einheitliche nationaler Bewegung“.

Schauen wir uns aber die angeblichen Beweise genauer an: Nergadze zeigt nachfolgen ein Dokument in die Kamera mit dem falsch geschriebenen Titel „CertifiKate“ (anstelle des richtigen „Certificate „). Das fragliche Dokument soll im Auftrag einer Stelle mit dem absurden Titel „Security service of defence“ ausgestellt worden sein. Wir haben keine solche Untereinheit in der Struktur des georgischen Innenministeriums ausfindig machen können, die angeblich das „Dokument“ ausgegeben haben könnte. Der Text vom „CertifiKate“ selbst wirft auch die Frage auf, ob es wirklich von einer offiziellen georgischen Stelle ausgestellt wurde. In dem Text, welcher auf dem Bildschirm sichtbar ist, gibt es noch eine Reihe anderer Fehler wie: „to carry OF the weapon“, „And“ mit einem Großbuchstaben. Und in der dritten Zeile wird nun „certificate“ wieder richtig geschrieben. Sehr viele Ungereimtheiten, die das Dokument sehr fragwürdig erscheinen lassen.

Dokument von Koba Nergadze, welches im Beitrag gezeigt wurde

Um 7:49min im Dokumentarfilm wird uns der angebliche Scharfschütze Alexander Revaschvilli als ein neuer Schauspieler vorgestellt: Und jetzt beginnt eine neues Märchen mit dem Zitat:

Eines Tages, am 15. Februar, kam [Militärberater] Mumulasvili persönlich mit einem anderen Mann in Uniform zu uns ins Zelt. Dies sei ein amerikanischer Militärausbilder gewesen.

Die Stimme aus dem OFF erzählt uns, dass „der Amerikaner Brian Christopher Boeinger heißt, der „nach dem Maidan zur Front im Donbas gewechselt ist„. Wir haben das Video gefunden, in der Geschichte von Brian Boeinger (8:15) im Beitrag erzählt wird. Allerdings passen Original-Video und die Matrix-Erzählung nicht zueinander.

Denn das Video ist eine Aufzeichnung der Pressekonferenz der „ATO-Georgische Nationale Legion“, vom 24. Februar 2016, bei Glavkom. Also mehr als anderthalb Jahre vor dem Auftauchen der „Wahrheiten“ des italienischen Beitrags. Während der Pressekonferenz wurden insbesondere die Integration des ehemaligen US-Servicemanns Brian Christopher Boenger in die Reihen der ATO-Legion und die Beteiligung der Legion in der ATO gewidmet.

Wir stellen hierbei zwei wichtige Punkte fest: Bei 19:06 min sagt Mamulashvili, dass er selbst gar nicht auf dem Maidan war. Er erklärt dass er zur fraglichen Zeit (am 14. Dezember 2013) in Baku bei einem Cup-Finale für Mixed-Martial Arts [gemischte Kampfsportarten] geweilt hat. Er kam in die Ukraine nur nach dem Machtwechsel und schloss sich sofort der ATO im Donbas an. Am Ende des Maidan unterstützen Mumulashvili und seine Aktivisten den Euromaidan nur aus der Entfernung (1, 2, 3, 4).

Die von Matrix vorgebrachten Beweise über eine angebliche Anwesenheit von Mamulashvili auf dem Maidan können also nicht stimmen und sind eine Fälschung.

Was Brian Boenger betrifft: So arbeitete er tatsächlich als Militärinstrukteur in der Ukraine, aber erst ab dem Jahr 2015. Das wird auch auf der Pressekonferenz bei 11:27 min deutlich. Auf die Frage eines Journalisten, ob der Amerikaner bereits in der Ukraine gewesen sei, antwortet Boenger, dass er 2015 für 5 Monate Freiwillige für Dreharbeiten in der Ukraine ausgebildet habe.

Wir halten fest: Der italienische Beitrag verwendet Filmmaterial einer Pressekonferenz, in der die Hauptzeugenaussagen und auch die Anwesenheit von „georgischen Scharfschützen“, also die Hauptbeweise widerlegt werden. Es wird durch die Aussagen widerlegt, dass Mamulavshvili und ein amerikanischer Ausbilder an den Protesten des Maidan teilgenommen hätten und persönlich die Arbeit der Scharfschützen geleitet haben. All dies stimmt nicht.

Nach der Veröffentlichung des italienischen Films kommentiert Mamulashvili auf seiner offiziellen Facebook-Seite den Beitrag und erteilt den Machern des Beitrags einige Hinweise:

https://www.facebook.com/GeorgianNationalLegion/posts/1972880182952114

In den Kommentaren unter dem Beitrag von Georgian Legion, wird klargestellt:

„Diese Provokation ziemlich wurde ziemlich dürftig [rau] gemacht, weil nicht einmal grundlegenden Fakten mit der Realität übereinstimmen. Nämlich dass Mamuka Mamulashvili zu der Zeit physisch nicht in der Ukraine war, was auch leicht zu beweisen ist! … Das Lustigste in dieser primitiven individuellen Handlung ist, dass die vorgeführten Georgier, nicht Englisch sprechen und auch schlecht Russisch sprechen. Im Interview sagen sie aber, dass sie ständig in Kontakt mit den amerikanischen Soldaten waren und „seine Befehle ausgeführt haben.“ Interessant ist aber in welche Sprache die „Zeugen“ in der Lage waren, „Ihnen Befehle zu geben“. Sie [die Macher des Beitrages] hätten ein wenig mehr über die Fakten nachdenken sollen, bevor Sie diese Schande im Netz verbreiten.“


3. Eine Beteiligung der ukrainischen Oppositionsführer, Pashinski und Parasyuk als Auftraggeber der Scharfschützen“

Der italienische Beitrag vermischt weiter Fiktion mit der Realität: „Am 18. Februar wurde im Kofferraum eines Autos [von Pashinski] von Demonstranten eine Maschinenpistole gefunden.“ Fest steht, dass Sergei Pashinski, Vertrauter von Julia Tymoshenko, nie Sprecher des Parlaments war, wie er im Beitrag tituliert wird. Übergangspräsident war Oleksandr Turchinov, und die angebliche Maschinenpistole war in Wirklichkeit ein Jagdgewehr. Unmittelbar nach dem Sieg des Maidan wurde der tatsächliche Besitzer der Waffe Piotr Barladin als Zeuge vorgeladen und das Gewehr wurden einer gerichtlichen ballistischen Untersuchung unterworfen. Der Fall im Kiewer Petschersker Gericht ist gegenwärtig noch nicht abgeschlossen. Die angeblichen „Pashinski-Sniper“, wie der Beitrag beginnt, haben aber mit den Vorfällen auf den Maidan wenig zu tun, da die gefundene Waffe definitiv nicht im Zusammenhang mit den Schüssen auf dem Maidan steht.

Weiter im Text: Ein weiterer Beweis der Personen, die an der „Verschwörung“ beteiligt gewesen sein sollen ist Vladimir Parasyuk, der als „einer der Führer des Maidan“ tituliert wird. In der Tat ist er aber nicht „einer der Anführer des Maidan“, sondern ein Sotnik“ (Kommandeur einer Hundertschaft, ugs. historische Bezeichnung aus Kosaken-Zeiten) einer Gruppe von etwa 60 Personen. Parasyuk war nicht durchgehend auf dem Maidan und reiste häufig nach Lemberg, wo er lebte und auch arbeitete. Zur Klarstellung: In einem Interview, dass er am 24. Februar 2014 der Zeitung Ukr. Prawda gab, erklärt Parasyuk, er sei erst am Abend des 18. Februar mit seinem Vater nach Kiew aufgebrochen. An dem Tag als die Berkut-Truppen den Maidan betraten.

Screenshot Ukr. Prawda

Um 10:42 min erklärt Koba Nergadze: „Am 18. Februar haben sie mir meine Waffen in mein Zimmer [im Hotel der Ukraine] gebracht“. Dennoch ist es keine schlechte Idee, dem Scharfschützen genau zu sagen, wann es am 18. Februar war. Denn an diesem Tag gegen 13:00 Uhr begann Berkut, die Demonstranten von der Institutska-Straße hinunter zu drängen. Die Milizsoldaten entfernen alte Barrikaden und ungefähr um 16 Uhr nähern sie sich dem Maidan-Platz an. Dies können Sie auch im nachfolgenden Youtube-Video genau sehen, wie weit die Berkut-Truppen auf den Maidan vordrangen. Das Hotel Ukraina bleibt später bis zum Morgen des 20. Februar unter Kontrolle der Regierungstruppen.

Bei 11:09 min des Beitrags erinnert sich der angebliche Scharfschütze Alexander Revaschvilli. Wenn ich am 15. oder 16. Februar nicht falsch liege … hat uns Paschinski zum Gebäude des Konservatoriums gebracht.“  Wie vorher die anderen Zeugen auch, liegt er bei seinen schauspielerischen „Erzählungen“ tatsächlich historisch mehr als falsch.

Wir werden uns erinnern, dass am 24. Februar 2014 im Interview mit der Ukr. Prawda Volodymyr Parasyuk erklärt hat, dass die EuroMaidan-Aktivisten das Konservatorium seit dem 19. Februar kontrollierten. Wir finden die Bestätigung seiner Worte auch in den Nachrichten des Radio-Senders GS-FM: Am 19. Februar nahmen Aktivisten mehrere neue Gebäude im Zentrum der Hauptstadt [unter ihre Kontrolle, Anm.]: die Hauptpost, das Konservatorium und die staatliche Agentur für Fernsehen und Radio.“

Screenshot aus dem Interview mit Ukr. Prawda

Um 12:35 min zeigt Mikalesin Aufnahmen, indem Männer in Tarnkleidung durch ein Hotelzimmerfenster des Hotel Ukraine schießen.

Wir haben dieses Video auch online gefunden. Es wurde am 20. Februar 2014 in RT Ruptlys Youtube-Kanal unter dem Titel: Ukraine: Snipers target police in Independence Square hochgeladen. In den Kommentaren unter dem Video weisen Nutzer aber darauf zurecht darauf hin, dass diese Menschen kaum Scharfschützen genannt werden können, weil ihre Waffen Luftgewehre und Glock-Pistole mit Gummikugeln sind. Das Video selbst lässt nicht klar werden, wer genau die drei schießenden Männer sind.

Beachten Sie, dass im gesamten Beitrag immer neue angebliche Tatsachen und Beweise präsentiert werden, die die Erschießung von Maidan-Demonstranten betreffen. Ganz im Gegensatz erhält Anfang Februar ein Anwalt der Maidan-Opfers ein Video, das höchstwahrscheinlich vom Hotel Ukraine aufgenommen wurde. In dem Video werden knapp 70% der Morde und Verletzungen der Aktivisten aufgezeichnet. Wie deutlich erkennbar ist, wird von der Regierungsseite gezielt auf die Aktivisten geschossen. Das Video dient als Nachweis der Schuld der Regierungstruppen in der Erschießung von Aktivisten des Maidan. Anbei sehen Sie einen kurzen Auszug aus dem Video.

ACHTUNG: Video-Auszug enthält eindeutig drastische Gewalt. [18+]

Seit zwei Jahren beschäftigen sich ukrainischen Gerichte mit Fällen der Erschießung von Demonstranten auf dem Maidan. Auf der Anklagebank sind 5 Mitarbeiter der sogenannten „schwarzen Gruppe von Berkut“. Weitere 21 ehemalige Berkut-Mitarbeiter, die im Verdacht stehen, 48 EuroMaidan-Aktivisten getötet zu haben, verstecken sich in der Russischen Föderation. Die russischen Behörden weigern sich, sie an die Ukraine auszuliefern.

Die angeblichen georgischen Scharfschützen erhielten angeblich den Befehl, sowohl auf die Demonstranten als auch auf Berkut zu schießen. Der ehemalige Ministerpräsident Azarov fügt in einem russischen Interview hinzu, dass Scharfschützen am 14. Februar nach Kiew gebracht wurden. Eine Google-Suche (1, 2)  ergibt, dass scheinbar nur Azarow und ein anderer Ex-Regionen-Politiker sich an den Namen der Scharfschützen erinnern können.

Azarov fügt hinzu, dass die Position, von der die angeblichen Georgier am Morgen des 20. Februar gefeuert haben, von einem Gebäude hinter dem Kozatskaya Hotel stammt.

Wir zeigen Ihnen auf der Karte von Kiew, wo sich das Hotel Kozatskaya befindet und wo sich das Hotel Ukraina befindet.

Mehr über Geschichten und erfundene Maidan-Scharfschützen können Sie in unserem StopFake-Beiträgen von Mai 2014 lesen.


Zusätzlich sagte am 21.11.17, der Leiter der Abteilung für Sonderuntersuchungen der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, Serhiy Horbatuk, dass die präsentierten Beweise im Film Ukraine, die versteckten Wahrheiten“ nicht bestätigt werden können:

Vorläufige Beweise bestätigen, dass die Schöpfer des Films nicht versucht haben, die Wahrheit zu erfahren … Es gab keine einzige Adresse von Journalisten … die über das Know-how und die Informationen über die Drehorte verfügen.“

Laut den Worten von Horbatyuk entsprachen die Geschichten der drei Georgier, die angeblich im Januar in der Ukraine ankamen und im Hotel Ukraine lebten, nicht der Realität.

„Die Überprüfung hat uns gezeigt, dass solche Personen nicht nur nicht im Hotel Ukraine übernachtet haben, sondern sogar nicht das Territorium der Ukraine betreten haben.Laut Horbatkyuk stimmen „ihre Geständnisse, dass sie auf beiden Seiten schossen, auch nicht mit den Ergebnissen der Experimente, den Untersuchungsexperimenten zum Tod der Strafverfolgungsbehörden am 20. Februar und den Tötungen der Protestler überein.“ 


Zum Framing und Einordnung des Journalisten: In den späten 1970er Jahren war der italienische Journalist Gian Micalessin ein Jugendfrontkämpfer, einer Jugendorganisation der italienischen neofaschistischen Bewegung MSI. Jetzt verheimlicht der Militärkorrespondent seine Sympathie für den Kreml nicht wirklich. Dies als zusätzliche Kontextinformation und als Hinweis. Anbei ein Bild vom Facebook-Profil von Micalessin:

Facebook-Profil von Gian Micalessin

Nachtrag I: Am 21. November zeigt der russische TV-Sender „Rossija 24″ Anna Afanasievas Film „Maidan – 1000 Tage nach dem Kampf“. Darin verwendet die Autorin eine erweiterte Version von Gian Micalessin „georgischen Scharfschützen„-Interviews und wiederholt seine Version, dass die Führer der Opposition und der ehemalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili hinter den Morden auf dem Maidan stehen.

Nachtrag II (28.11.): Nach einiger Verzögerung wird der Fake auch im englischsprachigen Netz von russischen Desinformations-Medien weit verbreitet. Sputnik berichtet am 27.11.17, kann aber keine Neuigkeiten liefern, sondern wiederholt in einem Interview mit dem italienischen Journalisten nur die gefälschten Behauptungen. Keine neuen Informationen, nur nicht verifizierbare Allgemeinplätze.

Nachtrag III (3.12.): Der Russland-Spezialist der BBC Stephen Ennis hat in seiner Analyse „Analysis: Doubts cast on Italian sniper claims about Ukraine’s Maidan“ festgestellt, dass es starke Zweifel daran gebe, dass der „Zeuge“ Revazishvili tatsächlich in Kiew war. Die im Matrix-Beitrag verwendete Film-Aufnahmen, die Revazishvili zeigen sollen, lassen sich nicht eindeutig mit Revazishvili in Verbindung setzen, so die Analyse von Ennis. Der Mann den Revazishvili zeigen soll ist tatsächlich Giorgi Svaridze, ein wortwörtlich

„a war veteran of the war in Georgia’s breakaway region of Abkhazia in the early 1990s (http://bit.ly/2AFeDDH). It also reveals that he looks nothing like Revazishvili.“

In einer weiteren Analyse des Matrix-Beitrags widmet sich der Tagesschau-Faktenfinder der Fake-Geschichte und bezieht sich darin teilweise auch auf StopFake-DE-Analysen. Im Beitrag Italienische Reportage im FaktencheckGeorgische Sniper auf dem Maidan?“ recherchiert Silvia Stöber, dass der Zeuge Revazishvili eventuell „ein krimineller Söldner?“ ist.

„(…) So findet sich der Name Alexandre Revazishvili auch in einer Mitteilung des georgischen Innenministeriums vom 15. September 2011. Handelt es sich um dieselbe Person und stimmen die offizielle Angaben, kann er während des Maidan-Aufstands nicht in Kiew gewesen sein.

In der Mitteilung geht es um die Aufklärung eines schweren Verbrechens an einer Familie mit Kidnapping, Gelderpressung und brutalem Mord im Jahr 1994. Die Täter, darunter Alexandre Revazishvili, seien festgenommen worden. In einem Video des Innenministeriums ist ein Foto des Mannes zu sehen. Es weist Ähnlichkeit mit dem Mann namens Revazishvili in der TV-Doku auf.

Auf Anfrage des ARD-faktenfinders und des georgischen Senders „Erster Kanal“ teilte das Ministerium für Strafvollzug in Tiflis mit, Revazishvili sei nach Zusammenarbeit mit den Behörden in dem Fall nur zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Aus dem Gefängnis entlassen wurde er demnach aber erst am 14. August 2014 – sechs Monate nach den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan.“

Der Faktenfinder kommt somit mit seinen eigenen Analysen auch zu demselben Schluss wie StopFake_DE.

„Mangels belastbarer Belege bleibt ungeklärt, ob die drei Georgier während der Maidan-Proteste überhaupt in Kiew waren und ihre Behauptungen damit stimmen können. Viele Medien verbreiteten diese Behauptungen aber, ohne diese selbst noch einmal zu prüfen oder weitere Recherchen anzustellen. Zur Aufklärung der Ereignisse auf dem Maidan trägt dies nicht bei. Auf Nachfragen reagierte der Journalist Micalessin nicht.